Das Virus des Neoliberalismus


Krankheit als Metapher

Erfolg, Konkurrenzfähigkeit, Profitabilität: Das Virus des Neoliberalismus ist schon lange in uns. Nun stellt ihn ein reales Virus infrage. Das ist auch eine Chance.


Krankheit als Metapher: Viren befallen eine Zelle und programmieren sie um. Das kann man auch metaphorisch auf das massenmediale Wirken des Neoliberalismus übertragen.


Krankheit als Metapher heißt ein berühmter Essay von Susan Sontag aus dem Jahr 1978. Es geht darin um den psychosozialen Umgang mit Krebs, in einem späteren Buch um den Umgang mit Aids. Der Krebs sei zum Spiegel einer Pathologie des spätmodernen, also restlos entfremdeten Menschen geworden. Im Kern zielte Sontags Kritik auf die Übertragung der Krankheit Krebs in die individuelle psychische Konstitution der Kranken selbst: Der Krebspatient sei im Grunde selbst schuld an seiner Erkrankung, weil er seine Gefühle nicht ausdrücken und ausleben könne. Der metaphorische Sprachgebrauch verwandle sich so zum Sprachmissbrauch. Die Krankheit wird der psychischen Unreife von Einzelnen angelastet. Sie wird zum Stigma.

Ungeachtet der Sontagschen Kritik befinden sich ähnliche Narrative nach wie vor im Umlauf. Man misst ihnen zum Beispiel in jenen esoterisch-alternativen Kreisen Bedeutung zu, die heute auch die Corona-Proteste mit- und so dazu beitragen, die Gefahr des Virus zu verharmlosen und damit gleichsam zu erhöhen. Die Deutung von Krankheit als Metapher (oder, um es mit einem Longseller der Szene in Deutschland zu sagen, von Krankheit als Weg) ist also mit Vorsicht zu genießen. Das bedeutet aber nicht, dass sich im Umkehrschluss auch Krankheitsmetaphern per se verbieten.
Metaphorische Überhöhung ist dazu da, eine komplexe, unsichtbare Deformationsmacht sinnfällig zu machen. Dazu eignet sich in besonderer Weise das Virus, dem heute als Krankheitserreger und Computerprogramm ohnehin bereits zwei fast gleichrangige Bedeutungen im Sprachgebrauch zukommen. Und mit den Computern beginnt auch die Geschichte des Virus als Metapher. Dezidiert als solche taucht es vermutlich erstmals 1970 in dem Essay "Die elektronische Revolution" von William S. Burroughs auf. Das Wort "digital" hatte sich zu jener Zeit noch nicht durchgesetzt. Aber genau darum ging es Burroughs in seinem Text: Wie sich mit der Computertechnologie, die seinerzeit gerade ihren Siegeszug begann, in einer von Geschäftsinteressen dominierten Gesellschaft die Herrschaftstechniken ändern.
Betrachten wir den menschlichen Körper und das menschliche Nervensystem als Entschlüsselungsgerät. Irgendein Virus, z.B. der Grippevirus, könnte dieses Gerät, dessen Mechanismus in Gang setzen, sodass der Betreffende Codesignale entschlüsselt. Drogen wie LSD könnten ebenfalls als Entschlüsselungsmechanismen fungieren. Es könnte sein, dass die Massenmedien in Millionen Menschen den Mechanismus in Gang setzen, der verschlüsselte Versionen ein und derselben Nachricht empfängt und entschlüsselt. Dabei ist folgendes zu bedenken: Wenn das menschliche Nervensystem eine verschlüsselte Nachricht empfängt und entschlüsselt, wird dem Betreffenden diese Nachricht wie sein eigener Gedanke erscheinen, der ihm gerade in den Kopf gekommen ist – und das ist er auch in der Tat.

Bei Burroughs, Beatnik-Autor und Miterfinder der experimentalästhetischen Cutup-Methode, unterscheidet sich der metaphorische Gebrauch des Virus von allen Verwendungsarten der Krankheitsmetaphern davor. Es steht nicht für einen Zustand der Welt oder der Menschen, sondern es umschreibt ein Betriebssystem, in dem Individuum und Gesellschaft eher die untergeordnete Rolle von Teilaspekten spielen. Kein Krankheitsbild dient hier als Sinnbild, sondern eine Wirkungsweise. Das unbemerkte Einschleusen, die Camouflage als körper- oder ich-eigenes Partikel. Das Virus steht für etwas, das grundsätzlich und immer da ist. Für etwas Zirkulierendes, das in uns eindringt und dort seine Codierungen vornimmt, von denen wir dann glauben, wir hätten sie selbst in Gang gesetzt.
Das alles beschreibt erst einmal eher einen medialen als einen gesellschaftlichen Zusammenhang – doch die metaphorische Brücke vom viralen zum neoliberalen Prinzip liefert bereits das Stichwort Massenmedien, das heute selbstverständlich um Stichworte wie Social Media, Internet, App-Technologie erweitert werden muss. Seit wir von einer "Ökonomie der Aufmerksamkeit" umgeben sind, wie der Soziologe Georg Franck festgestellt hat, besteht eine direkte Verbindung zwischen dem Agieren der globalisierten Märkte und der Erzeugung von Kaufinteressen und Konsumbedürfnissen durch Medien.
Der Umbau zu einer Bewusstseinssteuerung durch Affekte konnte aber, so lässt sich der Gedanke weiterverfolgen, nur dadurch gelingen, dass nach und nach virale Codepartikel in unserem Denken verankert wurden, die dem kollektiven Denken eine fundamental neue Wendung gaben. Diese sprachgenetischen Partikel heißen zum Beispiel: Erfolg, Konkurrenzfähigkeit, Profitabilität. Nicht dass es diese Partikel vorher nicht auch schon gegeben hätte. Aber seit die DNA, das Zentralprogramm der gesellschaftlichen Institutionen, mit ihnen infiziert ist, haben sich ihre Strukturen verändert und teilweise in ihr Gegenteil verkehrt.

Rechtspopulismus als Mutation

Das ist vielleicht der zentrale Aspekt, der auch Burroughs damals auf die Idee brachte, den Vorgang der viralen Ansteckung zur Metapher für den digitalisierten Kapitalismus zu machen. Das reale Virus heftet sich an seine Wirtszelle, injiziert sein genetisches Material in die Zelle und koppelt sich eng an deren biochemische Mechanismen. Es ist weder in der Lage, sich eigenständig zu vermehren, noch hat es einen eigenen Stoffwechsel. Erst indem es dem Wirt seine DNA einschreibt – und erst weil der Wirt das vom Virus veränderte Programm startet, kommt es zur Replikation.
Kurz, erst das Zusammenwirken von Wirt und Virus verursacht die Krankheit, und die beschränkt sich dann nicht auf einen einzelnen Bereich wie zum Beispiel den der Kommunikation und des Medienkonsums, sondern erfasst den ganzen Gesellschaftskörper: Im Gesundheitssystem zum Beispiel führten Rentabilitätsforderungen und Profitstreben dazu, dass Provinzkrankenhäuser geschlossen wurden, die ärztliche Versorgung ländlicher Regionen nicht mehr gewährleistet ist, Pflegepersonal eingespart wurde. Schlechte Bezahlung, Privatisierungen, Fallpauschalen flankierten die Erosion. Schulen, Hochschulen und Universitäten begreifen ihre Bildungsaufgabe mittlerweile in erster Linie darin, Fachkräftenachwuchs für die Wirtschaft zu liefern. Die Qualität von Literatur, Kunst, Kultur wird nach Verkaufszahlen und Quote bemessen, mit dem absurden Effekt, dass mediokre Kulturprodukte für Kunstwerke, ihre Produzenten für große Künstler gehalten werden (und sich dann natürlich selber dafür halten). Um nur einige Beispiele zu nennen.

Dies alles konnte nur gelingen, weil mithilfe von unbewussten, durch Massenmedien verbreiteten Botschaften die früher geltenden Maßstäbe und Kategorien umcodiert und überschrieben wurden: Erfolg, Konkurrenzfähigkeit und Profitabilität werden dadurch für Leistung, Qualität, Freiheit, Einzigartigkeit undsoweiter gehalten. Dabei ist man sich hundertprozentig sicher: Die Art und Weise, wie unsere Urteile zustande kommen, vollzieht sich objektiv, autonom, authentisch.
Auch zu Mutationen kommt es im neoliberalen Ansteckungskontext, genau wie beim realen Virus. Seine Evolution – etwa zu einem weit tödlicheren Erreger – kommt durch Kopierfehler der Wirtszelle bei der Replikation des Erbguts zustande. Was Managementberater und Unternehmenscoachs in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts auf die Gesellschaft losließen, wurde bald auch für Politiker etablierter demokratischer Parteien interessant: Erfolg durch Aufmerksamkeitsmaximierung.
Der Populismus ist also keine Erfindung der Neuen Rechten, aber erst dort ist das neoliberale Virus dann in einer weiteren Mutation zu jener noch weit gefährlicheren Form geworden, die von rechtsextremen Theoretikern wie Götz Kubitschek als "Metapolitik" bezeichnet wird: Man schleust Sprachpartikel in den öffentlichen Diskurs – Wörter wie "Asyltourismus" oder "Kopftuchmädchen" –, die dann plötzlich auch aus dem Mund konservativer demokratischer Politiker kommen und so ihr virales Vermehrungspotenzial gleichsam per Tröpfcheninfektion in die Bevölkerung streuen. 

Aber das Virus ist unschuldig. Wir, Wirte eines zerstörerischen Codes, haben das Programm gestartet. Wir sind es, die seit mindestens einem halben Jahrhundert der Maxime der Verwüstung folgen, weil wir der Maxime der unbegrenzten Profitabilität folgen, das Virus bereitwillig nähren, statt konsequent nach Mitteln zu suchen, es wieder aus unserem System zu bekommen. Wir sind es, die Ressourcen plündern und dann zum Börsenbericht switchen. Eine Gleichsetzung von Virus und Mensch, wie 1999 in Matrix vorexerziert, ist daher genau genommen eine Projektion, eine Auslagerung, eine Ideologie.
Zugleich ist es natürlich fast unmöglich, ein Virus, von dem die Gedanken befallen sind, aus eigener Gedankenkraft unschädlich zu machen. Nun aber stoppt ein reales Virus, gleichsam im Handstreich, das metaphorische Virus des Neoliberalismus – zumindest vorübergehend. Es schafft, was jahrzehntelange Kritik nicht zuwege gebracht hat: Auf einmal tauchen überraschend andere Systemrelevanzen auf, entsteht so auch eine andere Aufmerksamkeit für die Verwerfungen und Missstände gegenwärtiger Machtstrukturen. Dies könnte die Politik dazu zwingen, ihre zentralen Aufgaben neu zu bedenken und zu korrigieren. Was zu hoffen wäre.
Andererseits besteht nun natürlich auch die Gefahr, dass neue Mutationen entstehen und virulent werden. Dass sich zum Beispiel ein Gesundheitsparadigma manifestiert, das neue pestilente Sprachvirenblüten treibt. Etwa eine massive Aggressivität gegenüber allem und jedem, der dem neuen Programm nicht Folge leistet. Eine überzogene Maßregelung, womöglich Kriminalisierung jedweder Einwände gegen bestimmte gesundheitspolitische Maßnahmen. Eine Wiederbelebung des Denunziantentums. Ein Ziehen oder Wiederaufrichten von Grenzen.

"Impfung" als politischer Auftrag

Aber es gibt auch die Möglichkeit zu etwas, das in der Virologie "Immunantwort" heißt: Die Wirtszelle kann den Angriff auf ihre DNA neutralisieren. Für das Virus als Metapher bedeutet das: Auch Gesellschaften können sich immunisieren gegen die Replikation neoliberaler, neurechtsradikaler und womöglich gerade in diesem Moment entstehender Volkshygiene-Viren. Dass wir uns zum Beispiel sagen, dass ein Gesundheitssystem absolut vorrangig der Gesundheit, dass Lieferketten absolut vorrangig der Versorgung von Menschen, dass Bildung absolut vorrangig der Erziehung zu eigenständigem Denken, dass Kultur absolut vorrangig der Artikulation von Lebenswirklichkeiten, dass das Leben der Einzelnen absolut vorrangig dem Leben der Einzelnen dient. Und nicht der Profitmaximierung, nicht der Selbstoptimierung, nicht der Ruhigstellung, nicht dem Wirtschaftsstandort. Nicht dem "Erfolg". Für eine Immunarbeit in diesem Sinn wäre auch eine spezifische Form von Impfung denkbar und empfehlenswert – Impfung, die in diesem Fall als Metapher für "politischer Auftrag" verstanden werden sollte.

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Quelle: Online-Artikel von Norbert Niemann auf zeit.de, abgerufen am 01.06.2020

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