Isolation als Kontrollverlust


Die Einkaufsstraßen der Städte sind im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten noch immer schwach frequentiert. Die Pandemie hat zu einem massiven Konsumeinbruch geführt, der die Wirtschaft noch lange schwächen wird. Nun gibt es viele, die die Einkaufsunlust intuitiv begrüßen: Endlich wird dem Materiellen nicht mehr ein so hoher Wert beigemessen! Aber liegt in der Wertschätzung der Dinge tatsächlich das Problem?
Ein besonders inniges Verhältnis zu Gegenständen lässt sich bei Kindern beobachten: Man denke an ihre Trauer beim Verlieren des Lieblingskuscheltieres oder an ihre liebevolle Verbindung zu bestimmten Kleidungsstücken. Als Kind sitzt man wohl oft dem Glauben auf, die Dinge seien beseelt. Als Erwachsener weiß man, dass sie das im wörtlichen Sinne natürlich nicht sind. 


Und doch, wie schon Hegel feststellte, sind unsere Gegenstände in anderer Weise tatsächlich menschlich – nämlich die Vergegenständlichung menschlicher Arbeit und damit auch menschlichen Geistes. Diese Feststellung mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen, aber man mache sie sich beim Blick durch die eigene Wohnung, beim Gang durch die Stadt einmal bewusst: Die (jahrhundertelange) Arbeit wie vieler menschlicher Hände und Köpfe da zusammenkommt – in den Möbeln, den Bauwerken, den Transportmitteln. Und selbst wenn heute fast alles maschinell produziert wird, so sind ja auch die Maschinen das Ergebnis menschlichen Tuns.
Gegenstände und menschliche Beziehungen sind eng miteinander verwoben. So gesehen bräuchte es nicht weniger, sondern mehr Wertschätzung des Materiellen. Leider sind viele der uns umgebenden Gegenstände keineswegs in einer Weise entstanden, die es den Arbeitenden ermöglicht hätte, sich selbst sinnhaft in den Produkten zu verwirklichen – sondern unter ausbeuterischen und entfremdeten Verhältnissen. Aber gerade deshalb kann der Hegelsche Blick helfen, darüber nachzudenken, wie eine menschenwürdige Produktion und Konsumtion aussehen könnte. Anstelle des bloßen „Tauschwerts“ der Dinge würden diese ihre tatsächlichen Qualitäten in den Blick nehmen: Ihre Entstehung und Geschichte und ihren Zusammenhang mit unseren Bedürfnissen.

Müsste man nicht gerade jetzt in Zeiten der Kontaktbeschränkungen besonders produktiv sein? Nein, denn was wir aktuell erleben, ist ein Mangel und kein Verzicht.
Mangel hingegen ist gerade ein Ausdruck von fehlender Kontrolle. Er zeichnet sich dadurch aus, dass etwas Notwendiges oder auch nur Erwünschtes nicht verfügbar ist. Völlig unabhängig von der Selbstdisziplin oder den Bemühungen derer, die ihn erleiden. Während also der eine Zustand bestärkt und sichert, macht der andere machtlos, auch wenn man in beiden nicht vor die Tür geht. In diesem Sinne macht die Unruhe in der Selbstisolation etwas sichtbar, das auch auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene gilt: Verzicht kann man nur von denjenigen fordern, die etwas haben. Den Kontrollverlust des Mangels hingegen muss man aushalten. Allein dabei kann man einander unterstützen.

In der Philosophiegeschichte taucht die Isolation vor allem als produktiver Zustand auf. Ludwig Wittgenstein baute sich 1914 eine Denk- und Schreibhütte in Norwegen, Elfriede Heidegger ihrem Mann eine tief im Schwarzwald. In wirklich relevante theoretische Tiefen, so hat es den Anschein, dringt man nur zurückgezogen vor, abgeschirmt von der Ablenkung durch andere Menschen. Sind die seit 16. März andauernden Kontaktbeschränkungen also eigentlich perfekte Bedingungen für gründliches Nachdenken? Nein. Denn es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Verzicht und Mangel.
Verzichtsforderungen, oft lose abgeleitet aus der Stoa oder der buddhistischen Philosophie, erfahren seit einiger Zeit einen Popularitätsschub und stehen meist im Kontext einer umweltethisch begründeten und auf (Kauf-)Entscheidungen des Individuums fixierten Konsumkritik. Das Wort „Verzicht“ leitet sich vom mittelhochdeutschen „verzī(h)en“, für: „versagen, abschlagen, sich lossagen, aufgeben, verlassen“ ab. Hierin wird eine definierende Eigenschaft des Verzichts besonders deutlich: Im Gegensatz zum Mangel impliziert er Verfügbarkeit.

Wer sich also wie Wittgenstein aus dem Trubel der Gesellschaft und von einer „unangenehmen Umgebung (…), in der er die meisten Menschen verachtet und mit seinem nervösen Charakter stört“, wie er selbst schreibt, in die norwegische Einöde zurückzieht, verzichtet auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Wer gerade wegen einer Pandemie nicht in die Universität, in die Kneipe, und an all die anderen Orte kann, an denen man einander begegnet, dem mangelt es genau an dem, wovor der andere bewusst flieht. Dieser Umstand verändert alles.

Während der Verzicht bestärkt und sichert, macht der Mangel machtlos. Auch wenn man in beiden Zuständen nicht vor die Tür geht. 
Insofern ist es nicht widersprüchlich, sich noch vor einigen Monaten nach Abgeschiedenheit gesehnt zu haben und jetzt im Minutentakt die Anpassungen der Kontaktbeschränkung zu überprüfen. So man überhaupt den Luxus der Langeweile hat, weil man nicht damit beschäftigt ist, Kinder zu hüten, in gleichermaßen systemrelevanter wie prekärer Anstellung zu arbeiten, oder beides zugleich.
Im Verzicht manifestiert sich Kontrolle in zweifacher Hinsicht. Zum einen Kontrolle über sich selbst, über die eigenen Impulse, den Körper oder die Lust an der Verschwendung. Zum anderen über die betreffenden Ressourcen, denn es gehört zum Verzichten dazu, dass man jederzeit wieder damit aufhören könnte. Doch wieder Fleisch essen, in die nächste Stadt fahren oder ein Bier bestellen.

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