Nicht wieder normal


Unser Wirtschaftssystem war überhitzt und ausbeuterisch. Wir müssen den Neustart nach Corona nutzen, um das zu ändern.

Monate ohne viele Kontakte – was sehen wir, wenn wir diese Zeit zum Hinschauen nutzen? Wir sehen die Natur ausgebeutet, Luft, Böden und Wasser verschmutzt, die Artenvielfalt schwindend. Wir sehen die Schere zwischen Arm und Reich. Wir sehen das Erfinden und Hochstilisieren von kultureller Identität. Wir sehen international verflochtene Lieferketten, die Kosten reduzieren und Lagerhaltung minimieren sollen. Wir sehen unsere Abhängigkeit von Bestätigung von außen, sei es über die Statussymbole des Konsums, die Likes, die Follower.



Viele haben nun den Reflex, schnell zum Zustand vor dem Schock zurückkehren zu wollen. Aber: Was für eine Chance ließen wir damit verstreichen!

Spätestens seit der Club of Rome 1972 die Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, wissen wir, dass unser Wirtschaftssystem nicht nachhaltig ist: linear statt zirkulär, überhitzt, ausbeuterisch. Jahr für Jahr bekommen wir vor Augen geführt, dass wir die Menschheit noch nicht von der "Geißel des Krieges" befreit haben – auch wenn sich bereits 1945 die Regierungen der Gründungsstaaten der Vereinten Nationen genau dazu bekannt haben.
Die großen Hoffnungen, die wir in Wissenschaft und Wirtschaft gesteckt haben, haben sich bisher nicht bestätigt – nämlich, dass wir uns, erstens, aus dem Nachhaltigkeitsdilemma "heraus-erfinden" können und, zweitens, dass wir uns aus dem Konfliktdilemma "heraus-handeln" können.

Wenn man der Krise etwas Gutes abgewinnen kann, ist es dies: Sie stellt die Unvermeidbarkeit mancher Entwicklung infrage. Sie widerlegt Glaubenssätze, die wir oft genug vorgeschoben haben, um uns der Verantwortung zu entziehen: "Das ist die Globalisierung, die Digitalisierung, der Markt!" Dabei sind Kurs und Geschwindigkeit nicht vorgezeichnet, sogar angebliche Megatrends sind umkehrbar.
Nun gibt uns der Stillstand die Chance, den Neustart bewusst zu gestalten. Dazu müssen wir verstehen, was unser System antreibt. Was sind die Prämissen? Was wollen wir behalten, was loslassen, was anders gewichten?
Wir glauben an die Würde des Menschen und damit an sein Recht auf Selbstverwirklichung. Mit diesem Recht gehen individuelle und kollektive Verantwortung für die Allgemeinheit und die Allgemeingüter einher.

Jetzt gilt es, eine Einsicht neu zu beleben: Niemand ist eine Insel. Wir alle sind verbunden auf diesem Planeten – über Grenzen, Generationen und Wahlperioden hinweg. Und so dürfen wir nun die Balance justieren zugunsten der Natur, zugunsten derer, die Hilfe suchen, zugunsten junger und noch kommender Generationen. Für sie müssen wir den Schlagwörtern Nachhaltigkeit, Diversität und Menschlichkeit endlich Substanz verleihen.
Das Heute darf nicht weiter zulasten des Morgen gehen. Die Konjunkturpakete, die jetzt geschnürt werden, sollen die Gesundheit unserer Gesellschaft und unserer Volkswirtschaft unterstützen: Wir müssen unser Bildungssystem aufwerten, die Grundlagenforschung stärker fördern, die physische und digitale Infrastruktur ausbauen und sichtbar machen, wie wertvoll Arbeit ist.

Externe Effekte des Wirtschaftens – wenn Industrien etwa Unmengen sauberen Wassers verbrauchen – sollen sich im Preis der Produkte widerspiegeln. An die Stelle von linearer Wertschöpfung darf die Kreislaufwirtschaft treten. Auch wenn die Digitalisierung unser Leben immer stärker prägt – und Algorithmen für Menschen Entscheidungen treffen könnten –, der Mensch steht selbst in der Verantwortung. Kurzum: Künstliche Intelligenz darf nicht hinwegtäuschen über menschliche Ignoranz.
Wenn wir auf die vergangenen Monate blicken, stellen wir fest, wie anpassungsfähig wir Menschen sind. Wie ähnlich wir uns doch alle sind. Wir können auf vieles verzichten, nicht aber auf die Verbindung miteinander und nicht auf die Natur. Mit diesem Selbst-bewusst-Sein sollten wir aus der Krise hervorgehen. Und den Neustart bewusst gestalten.

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neo @ HR

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