Verschlimmscheisserung des Internetzs*

Plattformen wie Facebook haben ein Scheißozän eingeleitet: Sie stehen für die allmähliche Abwärtsentwicklung des Netzes. Deprimierend? Ja, aber nicht unumkehrbar. 😏
 

Im vergangenen Jahr habe ich den Ausdruck enshittification geprägt, man könnte es wohl mit Verschlimmscheißerung übersetzen, um zu beschreiben, wie Onlineplattformen verfallen. Das obszöne kleine Wort stieß auf ein großes Publikum; es traf den Zeitgeist. Die American Dialect Society wählte es sogar zu ihren Wörtern des Jahres 2023 (was vermutlich bedeutet, dass mir nun ein Kackhaufen-Emoji auf meinem Grabstein sicher ist).

Was also ist Verschlimmscheißerung, und warum hat der Ausdruck gezündet? Dahinter steckt meine Theorie, wie das Internet von Plattformen kolonisiert worden ist, warum all diese Plattformen so schnell und so konsequent schlechter werden, warum das von Bedeutung ist und was wir dagegen tun können. Wir alle durchleben eine große Verschlimmscheißerung, durch die sich die Dienste, die uns wichtig sind und auf die wir uns verlassen, in riesige Scheißhaufen verwandeln. Das ist frustrierend. Das ist zermürbend. Es ist sogar erschreckend.

Der Grundgedanke der Abwärtsentwicklung, also ebenjener Verschlimmscheißerung, trägt meiner Meinung nach viel zur Erklärung dieser Entwicklung bei. Er führt uns aus dem mysteriösen Reich der "großen Kräfte der Geschichte" in die materielle Welt spezifischer Entscheidungen, die von realen Menschen getroffen werden; Entscheidungen, die wir rückgängig machen können, und Menschen, deren Namen und Mistgabelgrößen wir herausfinden können.

Ein Sonderberater der Electronic Frontier Foundation und Gastprofessor für Computerwissenschaften an der Open University hat ein interessantes Buch geschrieben. Sein neuer Roman The Bezzle ist im Februar bei Head of Zeus erschienen. Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung der Marshall McLuhan Lecture, die er im Januar in der kanadischen Botschaft in Berlin gehalten hat. Der Beitrag wurde zuerst auf Englisch in der Financial Times abgedruckt.
 
Der Ausdruck enshittification benennt das Problem und schlägt eine Lösung vor. Er besagt nicht einfach nur, dass alles immer schlechter wird, obwohl ich kein Problem damit habe, wenn man ihn so verwenden will. (Es ist ein englisches Wort. Wir haben keinen Rat für englische Rechtschreibung. Englisch ist eine gesetzesfreie Zone. Flippt aus, meine Kerle.) Aber wenn Sie es genauer wissen wollen, lassen Sie uns anschauen, wie Verschlimmscheißerung funktioniert. Es ist ein dreistufiger Prozess: Erst sind Plattformen gut für ihre Nutzer. Dann missbrauchen sie ihre Nutzer, um ihren Wert für ihre Geschäftskunden zu steigern. Schließlich missbrauchen sie genau diese Geschäftskunden, um sich den ganzen Wert zurückzuholen. Und dann folgt ein viertes Stadium: Sie sterben.

Was böte eine bessere Fallstudie als Facebook?

Facebook ist aus einer Website hervorgegangen, die entwickelt wurde, um die sexuelle Attraktivität von Harvard-Studentinnen zu bewerten – und danach ging es nur noch bergab. Anfangs war Facebook nur für US-Hochschüler und Highschool-Gänger zugänglich. Dann öffnete es sich für das allgemeine Publikum mit einer wirkungsvollen Botschaft: Ja, ich weiß, ihr seid alle auf MySpace. Aber MySpace gehört einem Milliardär, der euch zu jeder Stunde ausspioniert. Meldet euch bei Facebook an, wir werden euch niemals ausspionieren. Kommt und erzählt uns, wer euch in dieser Welt wichtig ist.

Natürlich intelligent


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Das war die erste Phase. Facebook hatte einen Überschuss, das Geld seiner Investoren, und verteilte den dadurch generierten Mehrwert unter seinen Endnutzern. Diese banden sich dann an Facebook. Wie den meisten Technologieunternehmen nutzten auch Facebook die Netzwerkeffekte. Ein Produkt profitiert von Netzwerkeffekten, wenn es sich allein dadurch verbessert, dass mehr Menschen es verwenden. Sie gingen auf Facebook, weil ihre Freunde dort waren, dann haben sich andere angemeldet, weil sie da waren.

Doch Facebook zeichnete sich nicht nur durch starke Netzwerkeffekte aus, sondern auch durch hohe Transaktionskosten bei einem Wechsel. Wechselkosten sind all das, was man aufgeben muss, wenn man ein Produkt aussortiert oder sich von einem Dienst abmeldet. In Facebooks Fall waren das all die Freunde, denen man dort folgte und die einem folgten. Theoretisch hätte man sie alle zurücklassen können und woanders hingehen; praktisch war man gelähmt vom Problem kollektiven Handelns.

Denn es ist gar nicht so leicht, viele Menschen dazu zu bringen, zur selben Zeit dasselbe zu tun. Facebooks Endnutzer nahmen sich im Prinzip gegenseitig als Geiseln, was sie an die Plattform fesselte. Facebook nutzte diese Geisellage aus, entzog den Nutzern den Mehrwert und teilte ihn unter zwei Gruppen von Geschäftskunden auf: Werbekunden und Verlage.

Den Werbekunden sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln gesagt haben, wir würden sie nie ausspionieren? Nun ja, wir tun es doch. Und den Zugang zu diesen Daten verkaufen wir euch in der Form fein abgestimmter Zielgruppenansprache. Eure Anzeigen sind spottbillig, und wir scheuen keine Kosten, um sicherzustellen, dass die von euch bezahlte Anzeige auch von einem echten Menschen gesehen wird.

Den Verlagen sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln erzählt haben, wir würden ihnen nur zeigen, was sie von sich aus sehen wollen? Ha! Ladet kurze Auszüge eurer Website hoch, verlinkt sie, und wir werden sie Nutzern in die Augen schmieren, die nie darum gebeten haben, sie zu sehen. Wir bieten euch einen kostenlosen Traffic-Trichter, der Millionen Nutzer auf eure Website bringt, die ihr nach Belieben monetarisieren könnt. Und so banden sich auch Werbekunden und Verlage an die Plattform.

Nutzer, Werbekunden, Verlage – alle waren in Facebook eingeschlossen. Was bedeutete, dass es Zeit für die dritte Phase der enshittification war: ihnen allen den Mehrwert zu entziehen und ihn an die Facebook-Aktionäre zu verteilen.

Für Nutzer bedeutete dies, dass der Anteil an Inhalten von Profilen, denen man folgte, auf eine homöopathische Dosis heruntergefahren und die entstandene Leere mit Anzeigen sowie bezahlten Inhalten von Verlagen gefüllt wurde. Für Werbekunden bedeutete das steigende Preise und eingeschränkte Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung, sodass sie am Ende viel mehr für Anzeigen zahlten, die wahrscheinlich viel seltener wahrgenommen wurden. Für Verlage bedeutete es, dass die Reichweite ihrer Posts algorithmisch heruntergeregelt wurde, wenn sie nicht einen immer größeren Anteil ihrer Artikel in den Auszug aus ihrer Website aufnahmen. Und dann begann Facebook, Verlage dafür zu bestrafen, wenn sie auf ihre eigene Website verlinkten, sodass sie eingepfercht waren und vollständige Texte ohne Links posten mussten, also zu Warenanbietern für Facebook wurden und für ihre Reichweite wie für ihre Monetarisierung gänzlich auf das Unternehmen angewiesen waren.

Wenn irgendeine dieser Gruppen protestierte, wiederholte Facebook einfach das Mantra, das jede Techführungskraft in ihrem Darth-Vader-MBA lernt: "Ich habe den Vertrag geändert. Hoffe und bete, dass ich ihn nicht noch weiter abändere."

Was genau führt gerade jetzt zur Großen Verschlimmscheißerung?


Nun tritt Facebook in die gefährlichste Phase der Verschlimmscheißerung ein. Es will sämtlichen verfügbaren Mehrwert abziehen und gerade genug Restwert in dem Dienst belassen, um die Endnutzer aneinander und die Geschäftskunden an die Endnutzer zu binden, alles andere geht an die Aktionäre. (Erst kürzlich kündigte das Unternehmen eine vierteljährliche Dividende von 50 Cent pro Aktie sowie eine Erhöhung seiner Aktienrückkäufe um 50 Milliarden Dollar an. Die Aktienkurse stiegen sprunghaft.)

Doch ist das ein sehr fragiles Gleichgewicht, denn der Unterschied zwischen "Ich hasse diesen Dienst, kann mich aber nicht dazu durchringen, mich abzumelden" und "Um Himmels willen, warum habe ich so lange gebraucht, um mich abzumelden?" ist sehr gering.

Es reicht ein Cambridge-Analytica-Skandal, eine Whistleblowerin, ein Livestream von einer Massenerschießung, um User zu den Ausgängen zu treiben, und dann wird Facebook entdecken, dass Netzwerkeffekte ein zweischneidiges Schwert sind. Wenn Nutzer nicht gehen können, weil alle anderen bleiben, dann gibt es, wenn alle sich zu verabschieden beginnen, keinen Grund, es nicht auch zu tun. Das ist die letale enshittification.

Diese Phase geht üblicherweise mit Panik einher, von Techenthusiasten euphemistisch als pivoting bezeichnet, strategischer Kurswechsel. Weshalb wir Kurswechsel wie den folgenden erleben: In Zukunft werden alle Internetnutzer zu beinlosen, geschlechtslosen, stark überwachten Comicfiguren mit niedriger Polygonalzahl in einer virtuellen Welt namens Metaverse.

Das ist der Prozess der enshittification, der Abwärtsentwicklung. Das sagt uns aber noch nicht, warum alles gerade jetzt verschlimmscheißert wird, und ohne dieses Wissen können wir nicht überlegen, was wir dagegen tun sollen. Was genau hat in unseren Tagen zur Großen Verschlimmscheißerung geführt? War es das Ende der Niedrigzinspolitik? Waren es Führungswechsel bei den Techgiganten?

Ist der Merkur vielleicht gerade rückläufig?

Nö.

Die Phase zinsfreier Zentralbankmittel hat zweifellos dazu geführt, dass die Technologieunternehmen mit Gewinnüberschüssen um sich schmeißen konnten. Doch Facebook begann mit seiner enshittification lange vor dem Ende der Politik des billigen Geldes, Amazon, Microsoft und Google genauso. Einige der Techgiganten haben neue Vorstandsvorsitzende bekommen. Googles Verschlimmscheißerung aber ist schlimmer geworden, seit die Gründer wieder an Bord sind, um die KI-Panik – Entschuldigung, den KI-Kurswechsel – der Firma zu beaufsichtigen. Und ein rückläufiger Merkur kann es schon deshalb nicht sein, weil ich Krebs bin, und wie jeder weiß, glauben Krebse nicht an Astrologie.

Wenn sich eine ganze Reihe unabhängiger Institutionen gleichzeitig auf die gleiche Weise verändert, ist das ein Zeichen dafür, dass sich ihr Umfeld verändert hat, und genau das ist in der Techbranche passiert. Wie alle Firmen gehorchen auch Technologiefirmen entgegengesetzten Notwendigkeiten. Auf der einen Seite wollen sie Geld verdienen. Auf der anderen Seite bedeutet Geld verdienen, dass man kompetentes Personal anwerben sowie motivieren muss und Produkte herstellen, die Menschen auch wirklich kaufen wollen. Je mehr Wert ein Unternehmen seine Belegschaft und seine Kundschaft abschöpfen lässt, desto weniger bleibt für seine Aktionäre.

Das Gleichgewicht, in dem ein Unternehmen Dinge, die wir mögen, in ehrenhafter Weise zu einem fairen Preis produziert, ist so beschaffen, dass eine Erhöhung der Preise, eine Verschlechterung der Qualität und eine Benachteiligung der Mitarbeiter das Unternehmen mehr kosten, als wenn es gleich ein schmutziges Spiel spielen würde.



Es gibt aber vier Kräfte, die Unternehmen disziplinieren und ihren Drang zur enshittification im Zaum halten:
  1. Konkurrenz. Firmen, die befürchten müssen, dass man einfach woanders hingeht, halten sich mit Qualitätsverschlechterungen und Preiserhöhungen zurück.
  2. Regulierung. Unternehmen, die höhere Geldstrafen durch Regulierer befürchten müssen, als sie auf betrügerische Weise erwirtschaften können, betrügen seltener.
  3. Diese zwei Faktoren betreffen alle Branchen, die nächsten beiden gelten speziell für den Technologiebereich.
  4. Selbsthilfe. Computer sind extrem flexibel, so wie auch die digitalen Produkte und Dienste, die wir mit ihrer Hilfe kreieren. Der einzige Computer, von dem wir wissen, wie man ihn baut, ist die turingvollständige Von-Neumann-Maschine, ein Computer, der jedes gültige Programm ausführen kann.

Das heißt, dass sich die Anwender immer irgendwelcher Programme bedienen können, um die Antifunktionalitäten auszuhebeln, die Werte von ihnen auf die Aktionäre einer Firma verlagern. Beispielsweise sagt jemand im Vorstand: "Ich habe ausgerechnet, dass wir netto zwei Prozent mehr Gewinn erzielen, wenn wir unsere Anzeigen um 20 Prozent invasiver machen."

In der digitalen Welt könnte jemand gut dagegenhalten: "Ja, aber wenn wir das tun, werden 20 Prozent unserer Nutzer Werbeblocker installieren, und unser Gewinn von diesen Nutzern wird auf null fallen – dauerhaft." Digitalunternehmen, heißt das, hält auch die Furcht im Zaum, eine verschlimmscheißernde Maßnahme werde die Anwender dazu bringen, zu ergoogeln: "Wie kann ich das entverschlimmscheißern?"

Und zu guter Letzt die Mitarbeiter. Die Angestellten in der Technologiebranche sind kaum gewerkschaftlich organisiert, aber das bedeutet nicht, dass sie keine Mitarbeitermacht haben. Der historische "Mangel an Talenten" hat bisher dazu geführt, dass sie an einem ziemlich langen Hebel saßen. Wenn sie mit ihren Vorgesetzten unzufrieden waren, konnten sie kündigen und auf der anderen Straßenseite einen neuen, besseren Job bekommen.
Konkurrenz verhindert "too big to fail"- und "too big to jail"-Firmen

Das war ihnen genauso klar wie ihren Vorgesetzten. Paradoxerweise hat das dazu geführt, dass Techmitarbeiter sehr leicht auszubeuten waren. In überwältigender Zahl sahen sie sich nämlich als angehende Gründer, als Unternehmer, die nur vorübergehend angestellt waren, als die Helden von morgen.

Deshalb waren Firmenmottos wie Googles "Sei nicht böse" und Facebooks "Die Welt offener und vernetzter machen" wichtig; sie vermittelten der Belegschaft ein Sendungsbewusstsein. Die amerikanische Bibliothekarin Fobazi Ettarh nennt dies berufliche Selbstüberhöhung (vocational awe), Elon Musk nennt es extremely hardcore, super hartgesotten, sein.

Obwohl die Techbelegschaften große Verhandlungsmacht besaßen, spielten sie sie nicht aus, als ihre Chefs verlangten, dass sie ihre Gesundheit, ihre Familien und ihren Schlaf opfern sollten, um willkürliche Fristen einzuhalten. Solange ihre Vorgesetzten ihren Arbeitsplatz in einen drolligen "Campus" mit Fitnessstudio, Gourmet-Cafeteria, Wäscheservice, Massagen und dem vorsorglichen Einfrieren von unbefruchteten Eizellen verwandelten, konnten sich die Mitarbeiter einreden, dass sie verhätschelt würden – statt dazu gebracht zu werden, sich zu Tode zu arbeiten.

Doch gibt es eine Kehrseite, wenn die Unternehmensführung die Belegschaft mit Appellen an ihr Sendungsbewusstsein motiviert: Die Belegschaft verfügt dann über ein Sendungsbewusstsein. Wenn man sie anschließend auffordert, die Produkte zu verschlimmscheißern, für deren Herstellung sie ihre Gesundheit ruiniert hat, wird sie moralisch verletzt sein, entrüstet reagieren und mit Kündigung drohen. Deshalb bildeten die Techangestellten selbst das letzte Bollwerk gegen eine enshittification.

Die Zeit vor der Verschlimmscheißerung war auch nicht von besseren Führungsqualitäten geprägt. Die Manager selbst waren nicht besser. Sie wurden nur im Zaum gehalten. Ihre niedrigsten Impulse wurden durch Konkurrenz, Regulierung, Selbsthilfe und Arbeitnehmermacht gebremst. Bis eines dieser Hemmnisse nach dem anderen unterlaufen wurde und sich der Trieb zur Verschlimmscheißerung ungehemmt austoben und das Scheißozän einleiten konnte.
Es ist ihnen egal. Es kann ihnen egal sein. Sie sind die Telefongesellschaft

Es begann mit dem Wettbewerb. Vom vergoldeten Zeitalter bis in die Reagan-Jahre bestand der Zweck des Kartellrechts darin, den Wettbewerb zwischen den Unternehmen zu fördern. Das US-Kartellrecht verstand die Macht der Unternehmen als gefährlich und versuchte, sie zu schwächen. Die europäischen Kartellgesetze entstanden nach dem Vorbild der US-amerikanischen, die von den Architekten des Marshallplans importiert wurden.

Aber mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den Achtzigerjahren übernahmen die Kartellbehörden weltweit eine Lehre namens "Verbraucherwohl", die im Wesentlichen davon ausging, dass Monopole ein Zeichen von Qualität seien. Wenn alle im selben Geschäft einkauften und dasselbe Produkt erwarben, bedeutete dies, dass es das beste Geschäft war und das beste Produkt verkaufte – und nicht, dass jemand betrog.

Und so begannen Regierungen rund um den Globus, auf die Durchsetzung ihres Wettbewerbsrechts zu verzichten. Sie ignorierten es einfach, als Unternehmen sich über es hinwegsetzten. Diese Unternehmen verschmolzen mit ihren wichtigsten Konkurrenten, schluckten kleinere Firmen und wuchsen so zu großen Bedrohungen heran. Sie feierten eine Fusionsorgie, die wahre Inzuchtbranchen hervorbrachte, ganze Wirtschaftszweige, die so inzestuös wurden, dass sie Habsburger Unterlippen ausbildeten, von Brillen bis Seefracht, Glasflaschen bis Zahlungsabwicklung, Vitamin C bis Bier.

Der Großteil unserer globalen Wirtschaft wird von maximal fünf globalen Unternehmen beherrscht. Wenn kleinere Firmen sich weigern, sich diesen Kartellen zu verkaufen, haben die Giganten freie Hand, sich noch weiter über das Wettbewerbsrecht hinwegzusetzen, mit einer "aggressiven Preisgestaltung", die unabhängige Rivalen gar nicht erst hochkommen lässt. Als Diapers.com Amazons Übernahmeangebot ablehnte, verbrannte Amazon 100 Millionen US-Dollar und verkaufte monatelang Windeln weit unter den Herstellungskosten, bis Diapers.com pleiteging und billig von Amazon übernommen werden konnte.

In der Comedysendung Rowan & Martin’s Laugh-In spielte Lily Tomlin einmal eine Telefonistin der Telekommunikationsfirma AT&T, die Werbung für das Monopol des Bell-Systems machte. Am Ende sagte sie immer: "Es ist uns egal. Es kann uns egal sein. Wir sind die Telefongesellschaft."

Die Giganten von heute werden nicht mehr durch Konkurrenz im Zaum gehalten. Es ist ihnen egal. Es kann ihnen egal sein. Sie sind Google.

Damit war die erste Einschränkung weg, und als sie entfiel, war auch die zweite – die Regulierung – zum Scheitern verurteilt.
 
Wenn ein Industriezweig aus Hunderten Unternehmen kleiner und mittlerer Größe besteht, ist er ein bunter Haufen, eine wilde Meute. Hunderte Firmen können sich nicht darauf einigen, was sie dem Parlament oder dem Kongress oder der Kommission sagen. Sie können sich nicht einmal darauf einigen, wie sie eine Versammlung bewirten wollen, auf der sie diese Frage besprechen.

Wenn ein Industriezweig aber auf eine Handvoll beherrschender Firmen zusammenschrumpft, verwandelt sich der bunte Haufen in ein Kartell. Fünf Unternehmen (oder vier oder drei oder zwei oder nur eines) können sich leicht auf eine einzige Botschaft für ihre Regulierer einigen, und ohne "verschwenderischen Wettbewerb", der ihre Gewinne schmälert, haben sie haufenweise Geld zu verteilen.

Deshalb ist Wettbewerb so wichtig. Nicht nur weil Konkurrenz Firmen zwingt, härter zu arbeiten und Wert mit Kundschaft und Belegschaft zu teilen, sondern weil Konkurrenz Unternehmen daran hindert, too big to fail und too big to jail zu werden.
Jeder Pirat will Admiral sein

Nun gibt es zahlreiche Dinge, bei denen wir uns keine wettbewerbsbedingte Verbesserung wünschen, etwa die Verletzung unserer Privatsphäre. Nachdem die Europäische Union ihr richtungsweisendes Datenschutzgesetz, die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), verabschiedet hatte, zog dies ein Massensterben kleiner Werbetechnologiefirmen in der EU nach sich. Diese Unternehmen verschwanden en masse, und das war eine gute Nachricht. Sie hatten noch tiefer und rücksichtsloser in die Privatsphäre eingegriffen als die großen Techunternehmen aus den USA. Wir wollen keine Effizienzsteigerung bei der Verletzung unserer Menschenrechte.

Google und Facebook jedoch blieben von den europäischen Gesetzen zum Schutz des Persönlichkeitsrechts ungeschoren, wohlgemerkt nicht, weil sie nicht gegen die DSGVO verstoßen würden. Sondern weil sie ihren Hauptsitz in Irland haben, einer der berüchtigtsten Oasen für Wirtschaftskriminalität in der EU. Und Irland wetteifert noch mit anderen solchen Paradiesen in der EU – Malta, Luxemburg, Zypern und manchmal den Niederlanden – darum, wer der Wirtschaftskriminalität das gastlichste Umfeld bietet.

Die irische Datenschutzbehörde trifft nur in sehr wenigen Fällen überhaupt Entscheidungen (und mehr als zwei Drittel ihrer Entscheidungen werden von EU-Gerichten aufgehoben), obwohl Irland der nominelle Sitz der am meisten in die Privatsphäre eingreifenden Unternehmen auf dem Kontinent ist. Google und Facebook können also so tun, als seien sie gegen Datenschutzgesetze immun, und zwar deshalb, weil sie mit einer App gegen diese Gesetze verstoßen.

An diesem Punkt wäre das dritte Hemmnis, die Selbsthilfe, bestimmt nützlich. Wenn man nicht will, dass die eigene Privatsphäre verletzt wird, muss man nicht darauf warten, dass ein irischer Datenschützer tätig wird, sondern installiert einfach einen Werbeblocker.

Mehr als die Hälfte aller Internetnutzer blockieren Werbung. Aber das Netz ist eine offene Plattform, entwickelt zu einer Zeit, als Tech aus Hunderten Firmen bestand, die sich gegenseitig an die Gurgel gingen und ihre Regulierer nicht vereinnahmen konnten. Heute wird das Web von Apps verschlungen, und Apps sind wie gemacht für eine Verschlimmscheißerung. Regulatorische Vereinnahmung bedeutet nicht nur, dass man sich über Vorschriften hinwegsetzen kann, sondern auch, dass man die Vorschriften zweckentfremden kann, um sie gegen seine Gegner zu wenden.

Die heutigen Techgiganten sind groß geworden, indem sie Selbsthilfemaßnahmen ausbeuteten. Als Facebook den MySpace-Nutzern sagte, dass sie aus Murdochs gefräßigem australischen Soziale-Medien-Panoptikum fliehen müssten, sagte es diesen Nutzern nicht einfach: "Vergiss deine Freunde, komm zu Facebook und mach es dir einfach mit unseren coolen Datenschutzrichtlinien gemütlich, bis sie auch hier sind." Sondern es gab ihnen einen Bot, ein Programm zum Durchsuchen von Websites. Man tippte seinen MySpace-Usernamen und sein Passwort in den Bot ein, und er loggte sich in MySpace ein, tat so, als sei er man selbst, klaubte alles zusammen, was man im Posteingang hatte, und kopierte es in den Posteingang von Facebook.

Als Microsoft in den Neunzigerjahren Apple am Markt die Luft abdrückte, indem das Unternehmen sich weigerte, eine funktionsfähige Version von Microsoft Office für den Mac auszuliefern – sodass Firmen gezwungen waren, die Macs ihrer Entwickler wegzuschmeißen und ihnen PCs mit nachgerüsteten Grafikkarten und Windows-Versionen von Photoshop und Illustrator zu geben –, flehte Steve Jobs Bill Gates nicht an, Mac Office upzudaten. Er beauftragte seine Techniker vielmehr mit dem Reverse Engineering von Microsoft Office und der Entwicklung eines kompatiblen Programmpakets, der iWork-Suite, deren Anwendungen, Pages, Numbers und Keynote, die Word-, Excel- und PowerPoint-Dateien von Microsoft lesen und selbst welche schreiben konnten.

Als Google auf den Markt kam, schickte es seine Webcrawler, seine automatischen Abrufprogramme, an jeden Webserver auf der Erde, dem sie sich als Webnutzer vorstellten: "Hi! Hallo! Haben Sie irgendwelche Websites? Danke! Vielleicht noch ein paar? Gerne noch mehr!"

Aber jeder Pirat will Admiral sein. Als Facebook, Apple und Google diese Interoperabilität mit feindlichen Mitteln herstellten, galt das als Fortschritt. Wenn man versucht, dasselbe mit ihnen zu machen, ist es Piraterie.

Wenn Sie versuchen, Google komplett auszulesen, wird es Sie mit Atomwaffen beschießen, bis Sie glühen.

Wenn Sie versuchen, einen alternativen Client für Facebook zu entwickeln, wird man Ihnen vorwerfen, dass Sie gegen US-Gesetze wie den Digital Millennium Copyright Act (DMCA) und EU-Gesetze wie Artikel 6 der EU-Urheberrechtsrichtlinie (EUCD) verstoßen. Versuchen Sie mal, ein Android-Programm zu entwickeln, das iPhone-Apps ausführt und Daten aus Apples Media Stores abspielt – man wird Sie bombardieren, bis die Trümmer rauchen. Wenn Sie versuchen, Google komplett auszulesen, wird es Sie mit Atomwaffen beschießen, bis Sie glühen.

Die Vereinnahmung der Regulierung durch Tech ist unfassbar. Der erwähnte Digital Millennium Copyright Act wurde 1998 von Bill Clinton in Kraft gesetzt, sein Paragraf 1201 dann als Artikel 6 der EUCD übernommen. Er verbietet pauschal das Umgehen jeder Form von Verschlüsselung, die den Zugang zu einem urheberrechtlich geschützten Werk beschränkt – etwa des Kopierschutzes einer DVD oder der eingebauten Beschränkungen eines Telefons (Jailbreaking) –, und sieht für Verstöße eine fünfjährige Haftstrafe und 500.000 US-Dollar Geldstrafe beim ersten Vergehen vor. Dieses Gesetz ist so weit gefasst, dass es dazu verwendet werden kann, Urheber einzusperren, wenn sie den Zugang zu ihren eigenen Werken ermöglichen. Das funktioniert wie folgt: 2008 kaufte Amazon Audible, eine Plattform für Hörbücher. Heute ist Audible ein Monopolist, der mehr als 90 Prozent des Hörbuchmarkts kontrolliert. Audible verlangt, dass alle Urheber auf seiner Plattform ihre Produkte über Amazons "digitale Rechteverwaltung" verkaufen, die sie an Amazons Apps bindet.
 
Ich schreibe also beispielsweise ein Buch, lese es über ein Mikrofon ein, bezahle einer Regisseurin und einer Technikerin ein paar Tausend Dollar, um das Ganze in ein Hörbuch zu verwandeln, und verkaufe es Ihnen dann auf der Monopol-Plattform Audible. Wenn ich später beschließe, Amazon zu verlassen, und Sie auf eine andere Plattform mitnehmen möchte, habe ich Pech gehabt. Wenn ich Ihnen ein Werkzeug zur Verfügung stelle, um die Amazon-Verschlüsselung von meinem Hörbuch zu entfernen, sodass Sie es mit einer anderen App abspielen können, begehe ich ein Verbrechen, das mit einer fünfjährigen Haftstrafe und einer halben Million Dollar Geldstrafe geahndet werden kann, sofern es sich um mein erstes Vergehen dieser Art handelt.

Damit droht einem eine härtere Strafe, als wenn man das Hörbuch einfach auf einer Torrent-Seite raubkopieren würde. Sie ist aber auch strenger als die Strafe, die man für den Diebstahl der Hörbuch-CD auf einem Fernfahrerrastplatz riskiert. Sie ist härter als die Strafe für den Überfall auf den Laster, der die CD transportiert.
 

Die Krankheit ist diagnostiziert, nun braucht es Heilung


Nehmen wir noch einmal die Werbeblocker, wie sie die Hälfte aller Internetnutzer nutzt. Kein App-Nutzer aber verwendet Werbeblocker, weil man erst die Verschlüsselung einer App überwinden muss, um einen Blocker installieren zu können, und das ist eine Straftat. (Jay Freeman, amerikanischer Geschäftsmann und Ingenieur, bezeichnet dies als "kriminelle Missachtung des Geschäftsmodells".)

Wenn also jemand auf der Vorstandsetage sagt: "Machen wir unsere Anzeigen um 20 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zwei Prozent", dann wird niemand einwenden, dass dies die Nutzer dazu bringt, zu googeln, wie man Werbung blockieren kann. Denn die Antwort lautet ja, dass man es nicht kann. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass jemand in diesem Vorstand sagen wird: "Machen wir unsere Anzeigen um 100 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zehn Prozent." (Das ist der Grund, warum jedes Unternehmen will, dass man seine App installiert, statt seine Website zu nutzen.)

Es gibt keinen Grund, warum Gig-Arbeiter, die sich einer algorithmischen Lohndiskriminierung ausgesetzt sehen, nicht eine Gegen-App installieren könnten, die beispielsweise alle Uber-Fahrer so koordiniert, dass sie keine Aufträge annehmen, bis eine bestimmte Lohnschwelle erreicht ist. Keinen Grund bis auf die kriminelle Missachtung des Geschäftsmodells, die Drohung, dass die Werkzeugschmiede, die jene Gegen-App programmiert haben, pleitegehen oder ins Gefängnis kommen, weil sie gegen DMCA 1201, das Gesetz gegen Computerbetrug und -missbrauch sowie das Marken-, Urheber-, Patent-, Vertrags-, Geschäftsgeheimnis-, Geheimhaltungs- und Wettbewerbsverbotsrecht oder, kurz gesagt, das Recht auf geistiges Eigentum verstoßen haben.

Doch geht es bei diesem Recht nicht nur um geistiges Eigentum. Das ist nur eine beschönigende Umschreibung für ein "Recht, mit dem ich über die Wände meiner Firma hinaus reichen und das Verhalten meiner Kritiker, Wettbewerber und Kunden kontrollieren kann". Und "App" ist nur eine beschönigende Umschreibung für eine "Website, die in genügend geistiges Eigentum eingewickelt ist, um es zu einer Straftat zu machen, sie zu modifizieren und die Arbeits-, Verbraucher- und Persönlichkeitsrechte ihrer Anwender zu schützen".

Es ist uns egal. Es kann uns egal sein. Wir sind die Telefongesellschaft.

Wie ist es um das vierte Hemmnis bestellt, die Mitarbeiter? Die Verhandlungsmacht und die berufliche Selbstüberhöhung der Techmitarbeiter hat die Verschlimmscheißerung jahrzehntelang begrenzt. Auch nachdem der Techsektor auf eine Handvoll Giganten zusammengeschrumpft ist. Auch nachdem diese ihre Regulatoren vereinnahmt haben. Auch nach der "kriminellen Missachtung des Geschäftsmodells" und nachdem die Selbsthilfe der Nutzer ausgeschaltet worden ist. Die Techbranche wurde durch das Gefühl eines ideellen Schadens gebremst, das Mitarbeiter beschlich, wenn sie zur Verschlimmscheißerung gezwungen werden sollten.

Erinnern Sie sich an die Zeiten, als die Technologiemitarbeiter davon träumten, für ein paar Jahre bei einem großen Konzern tätig zu sein, bevor sie ihre eigene Firma gründen und diesen Techgiganten plattmachen würden? Dieser Traum schrumpfte zusammen auf: ein paar Jahre für einen Giganten arbeiten, kündigen, ein Pseudo-Start-up gründen und, als umständlicherer Weg zu einem Bonus und einer Beförderung, vom alten Arbeitgeber "übernommen" werden. Dann schrumpfte der Traum noch einmal auf: sein ganzes Leben lang für einen Techgiganten zu arbeiten, kostenlosen Kombucha-Tee und jeden Mittwoch eine Massage zu bekommen.

Inzwischen ist der Traum ausgeträumt. Was bleibt, ist, für einen Techgiganten zu arbeiten, bis man rausfliegt, wie die 12.000 Google-Angestellten, die im vergangenen Jahr entlassen wurden, acht Monate nach einem Aktienrückkauf, der ihre Gehälter für die nächsten 27 Jahre finanziert hätte.

Die Mitarbeiter sind kein Hemmschuh mehr für die schlechtesten Impulse ihrer Chefs. Heute lautet die Antwort auf "Ich weigere mich, dieses Produkt zu verschlechtern" schlichtweg: "Geben Sie Ihren Mitarbeiterausweis ab und passen Sie auf Ihren Arsch auf, wenn die Tür hinter Ihnen zufällt."

Ich verstehe, dass das alles etwas deprimierend ist. Gut, wirklich deprimierend. Aber lassen Sie mich fortfahren! Wir haben die Krankheit diagnostiziert. Wir haben verstanden, wo sie herkommt. Jetzt können wir an einer Heilung arbeiten.

Ich […] habe nie einen hoffnungsvolleren Moment für eine vernünftige, informierte Technologiepolitik erlebt.

Es gibt vier Beschränkungen, die eine Verschlimmscheißerung verhindern: Wettbewerb, Regulierung, Selbsthilfe und Mitarbeitermacht. Um die Abwärtsentwicklung rückgängig zu machen und uns vor einer Rückkehr zu schützen, müssen wir jeden dieser Faktoren wiederherstellen und stärken.

Im Bereich des Wettbewerbs sieht es eigentlich ziemlich gut aus. Die EU, Großbritannien, die USA, Kanada, Australien, Japan und China nehmen das Kartellrecht wieder ernster als in den zwei Generationen zuvor: Sie verhindern Fusionen, machen bestehende Fusionen rückgängig, gehen gegen aggressive Preisgestaltung und andere schäbige Geschäftspraktiken vor. Wir sollten nicht vergessen: In den USA und in Europa haben wir bereits die entsprechenden Gesetze dafür; wir haben nur aufgehört, sie anzuwenden.

Ich engagiere mich zusammen mit der Electronic Frontier Foundation seit nunmehr 22 Jahren in diesem Kampf und habe nie einen hoffnungsvolleren Moment für eine vernünftige, informierte Technologiepolitik erlebt.

Nun nehmen die Verschlimmscheißerer das natürlich nicht einfach so hin. Lina Khan, die brillante Vorsitzende der US Federal Trade Commission, hat in drei Jahren kartellrechtlich mehr erreicht als alle ihre Vorgänger im Lauf der vergangenen 40 Jahre. Das Wall Street Journal hat sie daraufhin in mehr als 80 Kommentaren niedergemacht und als ineffektive Ideologin beschrieben, die nichts hinbekommt. Genau, deshalb habt ihr 80 Kommentare über sie gebracht. Weil sie nichts hinbekommt.

Reagan und Thatcher haben das Kartellrecht in den 1980er-Jahren ins Koma versetzt. Doch es ist erwacht, es ist wieder da, und es ist stocksauer.
 

 
 
 

Wie sich die Verschlimmscheißerung rückgängig machen lässt


Wie sieht es mit der Regulierung aus? Wie bekommen wir die Technologieunternehmen dazu, auf diesen einen unheimlichen Trick zu verzichten, dass sie "mit einer App" hinzufügen und sich damit dem Recht entziehen?

Hier in der EU beginnt man, das herauszufinden. Kürzlich ist der Hauptteil des Digital Markets Act (Gesetz über digitale Märkte) und der Digital Services Act (Gesetz über digitale Dienste) in Kraft getreten, die es den Opfern von Technologiefirmen erlauben, sich direkt an die europäischen Gerichte zu wenden und so die zahnlosen Wachhunde in Ländern wie Irland zu umgehen.

In den Vereinigten Staaten könnte es endlich zu einem digitalen Datenschutzgesetz kommen. Sie haben wahrscheinlich keine Ahnung, wie rückständig das US-Datenschutzrecht ist. Zuletzt verabschiedete der US-Kongress 1988 ein allgemein anwendbares Datenschutzgesetz. Der Video Privacy Protection Act (VPPA) machte es zu einer Straftat, wenn die Mitarbeiter einer Videothek die Liste Ihrer Videoausleihen preisgeben. Erlassen wurde das Gesetz, nachdem ein rechtsgerichteter Richter, der für den Supreme Court nominiert war, in einer Washingtoner Zeitung abgedruckt sah, was er ausgeliehen hatte. Die Liste war nicht einmal besonders verfänglich.

Gewiss, jener Richter, Robert Bork, wurde nicht in den Supreme Court berufen, aber das lag daran, dass er ein bösartiges Großmaul war, das als Nixons Generalstaatsanwalt gedient hatte. Dennoch befürchteten die Mitglieder des Kongresses, dass ihre eigenen Videoausleihen als Nächstes drankommen könnten, bekamen Panik und verabschiedeten den VPPA. Das war das letzte Mal, dass die US-Amerikaner ein großes, nationales Datenschutzgesetz erhielten. Und deshalb sind ziemlich viele von ihnen wütend.
  • Sind Sie beunruhigt, dass Facebook die Zeichentrickfigur Grampy in einen QAnon-Anhänger verwandelt hat?
  • Dass Insta Ihre Teenies magersüchtig gemacht hat?
  • Dass TikTok die Generation Z einer Hirnwäsche unterzieht, nach der sie anfängt, Osama bin Laden zu zitieren?
  •  Oder dass die Polizei die Identität von sämtlichen Teilnehmern einer Black-Lives-Matter-Protestveranstaltung und des Sturms aufs Kapitol am 6. Januar 2021 ermittelt, indem sie sich Standortdaten von Google besorgt?
  • Oder dass die Justizminister republikanischer Staaten die Spuren von Teenagerinnen zu Abtreibungskliniken in anderen Staaten verfolgen?
  • Oder dass Schwarze Bürger von Online-Kredit- oder Rekrutierungsplattformen diskriminiert werden?
  • Oder dass jemand mittels KI einen Deepfake-Porno mit Ihnen macht?

Ein bundesweites Datenschutzgesetz mit individuellem Klagerecht – sodass Privatpersonen Unternehmen verklagen können, die ihre Privatsphäre verletzen – würde viel dazu beitragen, all diese Missstände zu beseitigen. Es gibt eine große Koalition für ein solches Datenschutzgesetz.

Wie steht es um die Selbsthilfe? Die ist leider sehr viel weiter weg. Das Gesetz der EU über digitale Märkte wird die Techunternehmen zwingen, ihre geschlossenen Systeme für die Interoperabilität zu öffnen. Man wird mit WhatsApp Nachrichten an Leute auf iMessage schicken oder von Facebook auf Mastodon umziehen und trotzdem noch Nachrichten an Facebook-Nutzer senden können. Will man aber eines dieser Big-Tech-Produkte nachbauen und so abwandeln, dass es für einen selbst funktioniert statt für seinen Hersteller, dann ist die EU keine Hilfe. Dieser Bereich schreit nach Verbesserungen. Meine große Hoffnung ist, dass das Steinsche Gesetz, nach dem US-Ökonomen Herbert Stein, greift: Wenn etwas nicht ewig so weitergehen kann, wird es irgendwann aufhören.
 
Zuletzt der Faktor Arbeit. In Europa ist die Gewerkschaftsdichte viel höher als in den USA, wie die US-amerikanischen Technologiezaren schmerzlich feststellen müssen. Keine Nachricht war in letzter Zeit befriedigender als die jüngste Salve nordischer Gewerkschaften gegen einen gewissen Tesla-Typen. Doch selbst in den USA erleben die Technologiegewerkschaften einen Aufschwung. Die Techbeschäftigten haben erkannt, dass sie doch keine angehenden Gründer sind. In Seattle haben die Techmitarbeiter von Amazon aus Solidarität mit Amazons Lagerarbeitern die Arbeit niedergelegt – weil sie alle Arbeiter sind.

Wir beobachten mutige, energische, globale Maßnahmen in den Bereichen Wettbewerb, Regulierung und Arbeit, mit der Selbsthilfe als Schlusslicht. Es ist keinen Augenblick zu früh, denn die schlechte Nachricht lautet, dass die Verschlimmscheißerung jede Branche erfasst. Wenn sie vernetzte Computer einsetzen, können Hersteller das Darth-Vader-MBA-Drehbuch darauf anwenden, die Regeln von einem Moment zum nächsten zu ändern, Ihre Rechte verletzen und dann sagen: "Das geht in Ordnung, wir haben es mit einer App gemacht."

Von Mercedes, das Ihnen Ihr Fahrpedal im Prinzip monatsweise vermietet, bis zu Spülmaschinen im Internet der Dinge, die Sie an proprietäres Spülmittel binden, streut die Verschlimmscheißerung Metastasen in jeden Winkel unseres Alltags. Software frisst die Welt nicht auf, sie verschlimmscheißert sie nur.

Das Ganze hat aber auch eine gute Seite: Wenn jeder von ihr bedroht ist, dann hat auch jeder ein Interesse an Maßnahmen gegen eine solche Abwärtsentwicklung. Genau wie bei den Datenschutzgesetzen in den USA ist die potenzielle Koalition gegen die Verschlimmscheißerung riesig. Und unaufhaltsam.

Die Zyniker unter Ihnen könnten skeptisch sein, ob sie viel erreichen wird. Ist Verschlimmscheißerung nicht letztlich einfach dasselbe wie "Kapitalismus"? Also, nein.

Ich werde jetzt kein Plädoyer für den Kapitalismus halten. Ich glaube nicht wirklich daran, dass Märkte die effizientesten Verteiler von Ressourcen und Schiedsrichter der Politik sind. Aber der Kapitalismus von vor 20 Jahren schuf Raum für ein wildes und verworrenes Internet, einen Raum, in dem Menschen mit missliebigen Ansichten zueinanderfinden, sich gegenseitig helfen und organisieren konnten. Der Kapitalismus von heute hat ein globales, digitales Geistereinkaufszentrum hervorgebracht, gefüllt mit Bot-Mist, minderwertigen Geräten von Unternehmen mit konsonantenlastigen Markennamen und Kryptowährungsbetrug.

Das Internet ist nicht wichtiger als der Klimanotstand, Geschlechtergerechtigkeit, Gerechtigkeit für rassistisch diskriminierte Menschen, Völkermorde oder Ungleichheit. Doch ist das Internet das Feld, auf dem wir diese Kämpfe austragen können. Ohne ein freies, faires und offenes Internet sind sie verloren, bevor wir uns überhaupt ins Kampfgetümmel geworfen haben.

Wir können die Verschlimmscheißerung des Netzes rückgängig machen. Wir können die schleichende Abwärtsentwicklung jedes digitalen Geräts aufhalten. Wir können ein besseres, gegen solche Verschlimmbesserung resistentes digitales Nervensystem aufbauen, eines, das dazu geeignet ist, die Massenbewegungen zu koordinieren, die wir brauchen, um den Faschismus zu bekämpfen, Völkermorde zu beenden und unseren Planeten sowie unsere Gattung zu retten.

Martin Luther King sagte einmal: "Es mag stimmen, dass das Gesetz keinen Menschen dazu bringen kann, mich zu mögen, aber es kann ihn daran hindern, mich zu lynchen, und das halte ich für ziemlich wichtig."
 
So mag es auch stimmen, dass das Gesetz Unternehmen nicht dazu zwingen kann, Sie als ein menschliches Wesen zu behandeln, das einen Anspruch auf Würde und faire Behandlung hat, und nicht nur als eine wandelnde Geldbörse, einen Nachschub an Darmbakterien für den unsterblichen kolonialen Organismus namens Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber es kann Unternehmen dazu bringen, Sie genug zu fürchten, um Sie fair zu behandeln und Ihre Würde zu wahren – selbst wenn sie der Meinung sind, dass Sie das nicht verdienen.

 

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