Kapitalismus ist eine leere Religion
Der Kapitalismus ist eine leere "Religion", die vollständig auf Glauben – also Kredit – beruht. Wie kann sie funktionieren? Als Richard Nixon im Jahre 1971 die Golddeckung des Dollars aufhob, entlarvte er das Geldsystem vor aller Augen: Es ist auf nichts gebaut. Die kapitalistische Spektakel-Gesellschaft feiert sich seither erfolgreich selbst.
Gold mag der höchste "Wert" sein. Aber Geld ist die höchste "Ware", weil es letztlich die Nichtigkeit aller Waren anzeigt. |
Es gibt Zeichen der Zeit (Mt. 16, 2–4), die offensichtlich sind und doch von Menschen, die Zeichen am Himmel erforschen, nicht wahrgenommen werden können. Sie kristallisieren sich in Ereignissen heraus, die eine nahende Epoche ankündigen und ihr Kontur geben, Ereignisse, die vielleicht unbemerkt vorübergehen und nichts oder fast nichts an der Realität ändern, zu der sie hinzutreten, die jedoch gerade deshalb ihren Wert haben als Zeichen, als historische Kennungen, semeia tōn kairōn (die Zeichen der Zeit).
Eines dieser Ereignisse fand am 15. August 1971 statt, als die amerikanische Regierung unter der Präsidentschaft von Richard Nixon die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold für aufgehoben erklärte. Diese Erklärung bezeichnete faktisch das Ende eines Systems, das den Wert der Währung lange Zeit an eine Goldbasis gebunden hatte, und doch löste die Nachricht, die mitten in den Sommerferien kam, weniger Diskussionen aus, als man mit Recht hätte erwarten können.
Seit diesem Moment hatte ja die vom Präsidenten der Zentralbank gegengezeichnete Aufschrift, die auf vielen Banknoten zu lesen war (zum Beispiel auf dem Pfund und der Rupie, nicht aber auf dem Euro): «Ich verspreche, dem Inhaber den Betrag von . . . zu zahlen», endgültig ihre Bedeutung verloren. Der Satz bedeutete nun: Im Tausch gegen diesen Geldschein hätte die Zentralbank auf Anfrage (falls jemand dumm genug war zu fragen) nicht eine gewisse Menge an Gold ausgehändigt (für den Dollar ein Fünfunddreissigstel einer Unze), sondern einen genau gleichwertigen Schein. Das Geld, entleert von jedem anderen Wert, war rein selbstbezüglich geworden.
Umso erstaunlicher ist die Leichtigkeit, mit der die Geste des amerikanischen Souveräns akzeptiert wurde, obwohl sie doch einer Annullierung des Goldvermögens der Geldbesitzer gleichkam. Und wenn, wie es heisst, ein Staat seine geldpolitische Souveränität ausübt, indem er die Marktakteure dazu bringen kann, seine Schulden als Währung zu verwenden, so hatte auch dieses Geschuldete jeglichen realen Bestand verloren und war zu reinem Papier geworden.
Geld = Kredit
Der Prozess der Entmaterialisierung der Währung hatte viele Jahrhunderte zuvor begonnen, als die Bedürfnisse des Marktes dazu führten, neben der Metallwährung, die notwendigerweise knapp und hinderlich war, Wechsel, Banknoten, Zinspapiere (juros), Goldschmiede-Bescheinigungen (goldsmith’s notes) usw. vorzusehen. All diese Papiergelder sind eigentlich Schuldscheine und werden dadurch eine treuhänderische Währung. Das Metallgeld hingegen war aufgrund seines Edelmetallgehalts – zumindest im Prinzip – wertvoll (allerdings bekanntlich nicht mit Sicherheit: ein Grenzfall sind die von Friedrich II. geprägten Silbermünzen, die nach kurzer Benutzung das Kupferrot erkennen liessen). Joseph Schumpeter, der zwar zu einer Zeit lebte, als das Papiergeld bereits das Metallgeld überflügelt hatte, konnte dennoch nicht ohne Grund behaupten, alles Geld sei letztlich nur ein Kredit. Nach dem 15. August 1971 ist hinzuzufügen: Geld ist ein Kredit, der nur auf sich selbst beruht und nichts anderem als sich selbst entspricht.
«Kapitalismus als Religion» ist der Titel eines der eindringlichsten postum edierten Fragmente von Walter Benjamin. Der Sozialismus ist so etwas wie eine Religion, wie mehrfach festgestellt wurde (unter anderem von Carl Schmitt: «Der Sozialismus behauptet, einer neuen Religion zum Leben zu verhelfen, die für Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts dieselbe Bedeutung hatte wie das Christentum für Menschen vor zwei Jahrtausenden»). Anders als bei Max Weber stellt nach Benjamin der Kapitalismus nicht nur eine Säkularisierung des protestantischen Glaubens dar, sondern ist selbst ein wesentlich religiöses Phänomen, das sich parasitär aus dem Christentum entwickelt. Als eine solche Religion der Moderne ist sie durch drei Grundzüge bestimmt:
1. Sie ist eine Kultreligion, vielleicht die extremste und absoluteste, die es je gegeben hat. Alles darin hat nur Bedeutung in Bezug auf die Erfüllung eines Kultes, nicht in Bezug auf ein Dogma oder eine Idee.
2. Dieser Kult ist permanent, «die Zelebrierung eines Kultus sans trêve et sans merci», ohne Rast und ohne Gnade. Darin lässt sich nicht zwischen Festtagen und Arbeitstagen unterscheiden, sondern hier ist ein einziger, ununterbrochener Fest- und Arbeitstag, an dem die Arbeit mit der Feier des Kultes zusammenfällt.
3. Der kapitalistische Kult ist nicht auf die Erlösung oder Sühne für eine Schuld ausgerichtet, sondern auf die Schuld selbst. «Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus [. . .] Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiss, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen [. . .] und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen [. . .] Gott ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen.»
Gerade weil er mit all seiner Kraft nicht zur Erlösung, sondern zur Schuld, nicht zur Hoffnung, sondern zur Verzweiflung strebt, zielt der Kapitalismus als Religion nicht auf die Veränderung der Welt, sondern auf ihre Zerstörung. Und seine Herrschaft in unserer Zeit ist so total, dass sogar die drei grossen Propheten der Moderne (Nietzsche, Marx und Freud) sich, nach Benjamin, mit ihm verschwören, gewissermassen mit der Religion der Verzweiflung solidarisch sind. «Dieser Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos, das Nietzsche bestimmt. Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste, der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt.» Doch auch die Freudsche Theorie gehört zur Priesterschaft des kapitalistischen Kultes: «Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist [. . .] das Kapital, welches die Hölle des Unbewussten verzinst.» Und bei Marx wird der Kapitalismus «mit Zins und Zinseszins, welche Funktion der Schuld sind, zum Sozialismus». Versuchen wir, Benjamins Hypothese ernst zu nehmen und zu entfalten. Wenn der Kapitalismus eine Religion ist, wie können wir ihn unter dem Aspekt des Glaubens definieren? Woran glaubt der Kapitalismus? Und was bedeutet Nixons Entscheidung in Bezug auf diesen Glauben?
Am 15. August 1971 hob die amerikanische Regierung unter der Präsidentschaft von Richard Nixon die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold auf. Das Geld wurde rein selbstbezüglich, entleert von jedem anderen Wert.
Kredit = Glaube
David Flusser, ein grosser Gelehrter der Religionswissenschaft (es gibt sogar eine Disziplin mit diesem seltsamen Namen), arbeitete gerade über das Wort pistis, das griechische Wort, das Jesus und die Apostel für «Glaube» verwendeten. An diesem Tag befand er sich zufällig auf einem Platz in Athen, und an einem bestimmten Punkt hob er den Blick und sah vor sich in grossen Buchstaben geschrieben trapeza tes pisteos.
Verblüfft über den Zufall, schaute er genauer hin und stellte nach einigen Sekunden fest, dass er einfach vor einer Bank stand: trapeza tes pisteos bedeutet auf Griechisch «Kreditbank». Das war die Bedeutung des Wortes pistis, die er seit Monaten zu verstehen versucht hatte: pistis, «Glaube», ist einfach der Kredit, den wir bei Gott geniessen und den das Wort Gottes bei uns geniesst, indem wir es glauben. Deshalb kann Paulus in einer berühmten Definition sagen: «Der Glaube ist die Substanz der erhofften Dinge» (Hebr. 11, 1): Er verleiht Realität und Kredit an das, was noch nicht existiert, woran wir aber glauben und worauf wir vertrauen, worin wir unseren Kredit und unser Wort aufs Spiel gesetzt haben.
Creditum ist das Partizip Perfekt des lateinischen Verbs credere: das, woran wir glauben, worauf wir uns verlassen, sobald wir eine vertrauensvolle Beziehung zu jemandem aufbauen, indem wir ihn unter unseren Schutz nehmen oder ihm Geld leihen, indem wir uns auf seinen Schutz verlassen oder Geld von ihm borgen. In dem paulinischen Ausdruck pistis lebt also jene sehr alte indoeuropäische Institution wieder auf, die Benveniste rekonstruiert hat, die «persönliche Treue»: «Wer über die fides verfügt, die ein Mensch in ihn setzt, hält diesen Menschen in seiner Macht [. . .] In ihrer ursprünglichen Form beinhaltet diese Beziehung eine Gegenseitigkeit: die eigene fides in jemanden zu setzen, bedeutete im Gegenzug dessen Schutz und Hilfe.»
Wenn dies zutrifft, dann erhält Benjamins Hypothese einer engen Beziehung zwischen Kapitalismus und Christentum eine weitere Bestätigung: Der Kapitalismus ist eine Religion, die vollständig auf Glauben beruht, eine Religion, deren Anhänger allein aus dem Glauben (sola fide) leben. Und wie nach Benjamin der Kapitalismus eine Religion ist, in welcher der Kult sich von jedem Gegenstand und die Schuld von jeder Sünde, also von jeder möglichen Erlösung, emanzipiert hat, so hat der Kapitalismus unter dem Aspekt des Glaubens keinen Gegenstand: Er glaubt an die reine Tatsache des Glaubens, an den reinen Kredit, besser gesagt: an das Geld. Der Kapitalismus ist also eine Religion, in welcher der Glaube – der Kredit – an die Stelle Gottes getreten ist. Anders ausgedrückt: Da die reine Form des Kredits das Geld ist, ist der Kapitalismus eine Religion, deren Gott das Geld ist.
Das bedeutet: Die Bank, die nichts anderes ist als eine Maschine zur Vergabe und Verwaltung von Kredit, hat die Stelle der Kirche eingenommen, und indem sie über den Kredit verfügt, manipuliert und regelt sie den Glauben, den unsere Zeit noch in sich trägt – das knappe, unsichere Vertrauen.
Der neue Schuldkult
Was bedeutete für diese Religion die Entscheidung, die Konvertierbarkeit in Gold aufzuheben? Sicherlich so etwas wie eine Klärung ihres eigentlichen theologischen Gehalts, vergleichbar der Zerstörung des Goldenen Kalbs durch Mose oder der Festlegung eines Konzilsdogmas – auf jeden Fall einen entscheidenden Schritt zur Reinigung und Ausformung des eigentlichen Glaubens.
Dieser Glaube emanzipiert sich nun in Form von Geld und Kredit von jedem äusseren Bezugspunkt, löst seine götzendienerische Verbindung zum Gold und bekräftigt sich in seiner Absolutheit. Der Kredit ist ein rein immaterielles Sein, die perfekteste Parodie jener pistis, die nichts anderes als «Substanz der erhofften Dinge» ist. Glaube – so lautet die berühmte Definition des Hebräerbriefes – ist die Substanz (hypostasis, ein Fachbegriff par excellence der griechischen Ontologie) der erhofften Dinge.
Paulus meint: Wer glaubt, hat seine pistis auf Christus gesetzt, nimmt das Wort Christi, als sei es die Sache, das Sein, die Substanz. Doch gerade dieses Als-ob wird durch die Parodie in Form der kapitalistischen Religion ausgelöscht. Das Geld, die neue pistis, ist jetzt sofort und restlos Substanz. Der zerstörerische Charakter der kapitalistischen Religion, von der Benjamin sprach, kommt hier voll zum Tragen. Die «erhoffte Sache» gibt es nicht mehr, sie ist vernichtet, und das muss auch so sein, denn das Geld ist der eigentliche Bestand des Dings, seine hypostasis im technischen Sinne. Und auf diese Weise wird das letzte Hindernis für die Schaffung eines Geldmarktes, für die integrale Umwandlung von Geld in Waren, aus dem Weg geschafft.
Eine Gesellschaft, deren Religion der Kredit ist, die nur an den Kredit glaubt, ist dazu verurteilt, auf Kredit zu leben. Robert Kurz hat beschrieben, wie sich der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, der immer noch auf Solvenz und Misstrauen gegenüber Krediten beruhte, in den heutigen Finanzkapitalismus verwandelt hat. «Auf der Stufe des von heute aus gesehen geradezu archaischen Privatkapitals im 19. Jahrhundert mit seinen persönlichen patriarchalischen Eigentümern und den dazugehörigen Familienclans waren noch Prinzipien der Seriosität und ‹Solvenz› gültig, die eine ständige grössere Kreditaufnahme geradezu als unanständig und als ‹Anfang vom Ende› erscheinen liessen; die damalige Trivialliteratur ist voll von Geschichten, in denen ‹grosse Häuser› durch Abhängigkeit vom Kredit zugrunde gerichtet werden, und Thomas Mann hat dieses Sujet in einigen Passagen seiner ‹Buddenbrooks› bis zum Nobelpreis hochgefahren. Natürlich war das zinstragende Kapital als solches von Anfang an unentbehrlich für das sich herausbildende System, aber es erreichte noch keinen entscheidenden Anteil an der kapitalistischen Gesamtreproduktion; und namentlich die Geschäfte des ‹fiktiven Kapitals› galten sozusagen als Gauklerszene der Hochstapler und ‹unehrlichen Leute› am Rande des eigentlichen Kapitalismus. Noch Henry Ford lehnte lange Zeit eine Kreditaufnahme seines Unternehmens bei den Banken ab und wollte seine Investitionen nur aus Eigenkapital finanzieren.»
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde dieses patriarchale Konzept vollständig aufgelöst, und das Unternehmenskapital stützt sich heute zunehmend auf Geldkapital, das vom Bankensystem geliehen wird. Unternehmen müssen also im Grunde, um weiter produzieren zu können, zunehmende Mengen an künftiger Arbeit und Produktion im Voraus mit Hypotheken belasten. Das Güter produzierende Kapital ernährt sich fiktiv von seiner eigenen Zukunft. Die kapitalistische Religion lebt, im Einklang mit Benjamins These, von einer ständigen Verschuldung, die nicht getilgt werden kann und darf.
Doch nicht nur die Unternehmen leben in diesem Sinne allein aus dem Glauben (sola fide), auf Kredit (oder auf Schulden). Auch Einzelne und Familien, die in zunehmendem Masse darauf zurückgreifen, sind in diesem beständigen und allgemein gewordenen Glaubensakt auf Zukunft hin religiös gebunden. Und die Bank ist der Hohepriester, der den Gläubigen das einzige Sakrament der kapitalistischen Religion spendet: Kredit-Schulden.
Manchmal frage ich mich, wie die Leute nur so hartnäckig ihren Glauben an die kapitalistische Religion bewahren können. Denn es ist klar: Sobald die Leute ihren Glauben an den Kredit einstellten und aufhörten, auf Kredit zu leben, würde der Kapitalismus sofort zusammenbrechen. Allerdings zeichnen sich, wie mir scheint, Hinweise auf einen beginnenden Atheismus im Hinblick auf Gottes Kredit ab.
Die kapitalistische Gesellschaft des Spektakels
Vier Jahre vor Nixons Erklärung veröffentlichte Guy Debord «Die Gesellschaft des Spektakels». Die zentrale These des Buches lautete: Der Kapitalismus in seiner extremen Phase erscheint als eine immense Anhäufung von Bildern, und darin entweicht alles, was unmittelbar gebraucht und erlebt wurde, in eine Vorstellung.
An dem Punkt, an dem die Kommerzialisierung ihren Höhepunkt erreicht, verschwindet nicht nur jeder Gebrauchswert, sondern die Natur des Geldes selbst verändert sich. Es ist nicht mehr einfach «die allgemeine abstrakte Entsprechung zu allen Waren», die an sich noch mit einem gewissen Gebrauchswert ausgestattet ist: «Das Spektakel ist das Geld, das sich nur halten kann, weil in ihm die Gesamtheit des Gebrauchs gegen die Gesamtheit der abstrakten Vorstellung eingetauscht ist.» Auch wenn Debord es nicht sagt, ist dieses Geld ganz klar eine absolute Ware, die sich nicht auf eine konkrete Metallmenge beziehen kann, und in diesem Sinne ist die Gesellschaft des Spektakels eine Prophezeiung, die von der amerikanischen Regierung in ihrer Entscheidung vier Jahre später erfüllt wurde.
Dem entspricht laut Debord eine Transformation der menschlichen Sprache, die nichts mehr mitzuteilen hat und sich deshalb als «Kommunikation des Nicht-Kommunizierbaren» (These 192) zeigt. Zum Geld als reiner Ware gehört eine Sprache, in der die Verbindung zur Welt zerbrochen ist. Sprache und Kultur, in den Medien und in der Werbung voneinander getrennt, werden zur «Vorzeigeware der Spektakel-Gesellschaft», die sich einen wachsenden Teil des Nationalprodukts zu sichern beginnt. Für ebendiese sprachliche und kommunikative Natur des Menschen, die sich im Spektakel derartig enteignet sieht, gilt: Was die Kommunikation verhindert, ist ihre Verabsolutierung in einer getrennten Sphäre, in der es nichts mehr zu kommunizieren gibt ausser der Kommunikation selbst. In der Spektakel-Gesellschaft sind Menschen von dem getrennt, was sie vereinen sollte.
Von der Ähnlichkeit zwischen Sprache und Geld gemäss dem Ausspruch Goethes verba valent sicut nummi (Wörter haben den Wert von Münzen) weiss das Erbe des gesunden Menschenverstandes. Doch wenn wir versuchen, die in dem Ausspruch unterstellte Beziehung ernst zu nehmen, offenbart sich darin mehr als eine Analogie. Wie Geld sich auf Dinge bezieht, indem es sie als Waren konstituiert und marktfähig macht, so bezieht sich Sprache auf Dinge, indem sie sagbar und mitteilbar werden. Wie jahrhundertelang das Geld seine Funktion als universale Entsprechung zum Wert aller Güter durch sein Verhältnis zum Gold erfüllen konnte, liegt die Garantie für die kommunikative Fähigkeit der Sprache in ihrer Absicht, etwas zu bezeichnen, in ihrem tatsächlichen Bezug zur Sache.
Die hindeutende Verbindung in der Sprache zu den Dingen, real gegenwärtig im Geist jedes Sprechenden, entspricht der Goldbasis der Währung. Und genau darin liegt die Bedeutung des mittelalterlichen Prinzips: Nicht die Sache soll der Rede unterworfen werden, sondern die Rede der Sache (non sermoni res, sed rei est sermo subiectus). Bezeichnenderweise hat ein grosser Kirchenrechtler des 13. Jahrhunderts, Gottfried von Trani, diese Verbindung in juristischen Begriffen ausgedrückt, indem er die Sprache eine Beschuldigte (lingua rea) nennt, insofern man ihr eine Verbindung zur Sache zuschreiben kann: «Erst die tatsächliche Verbindung des Geistes mit der Sache macht die Sprache tatsächlich zurechenbar (das heisst bedeutungsvoll)» (ream linguam non facit nisi rea mens). Wenn diese bedeutungsvolle Verbindung wegfällt, sagt die Sprache buchstäblich nichts (nihil dicit).
Das Bezeichnete – der Bezug zur Wirklichkeit – garantiert die kommunikative Funktion der Sprache, so wie der Bezug zum Gold die Fähigkeit des Geldes zum Tausch mit allen Dingen gewährleistet. Und die Logik wacht über die Verbindung zwischen Sprache und Welt, wie der Golddevisenstandard über die Verbindung des Geldes mit der Goldbasis gewacht hat.
Gegen die Annullierung dieser impliziten Garantien, zum einen in der Loslösung des Geldes vom Gold und zum anderen in der Auflösung der Verbindung zwischen Sprache und Welt, richteten sich mit gutem Grund die kritischen Analysen in Bezug auf das Finanzkapital und die Gesellschaft des Spektakels. Das Medium, das den Tausch ermöglicht, kann nicht selbst getauscht werden. Das Geld als Massstab der Waren kann nicht selbst zur Ware werden. Ebenso wenig kann die Sprache die Dinge mitteilbar machen, wenn sie selbst ein Ding wird, ihrerseits Gegenstand der Aneignung und des Tausches.
Das Medium der Kommunikation kann nicht selbst kommuniziert werden. Getrennt von den Dingen, kommuniziert die Sprache nichts und feiert so ihren vergänglichen Triumph über die Welt; losgelöst vom Gold, stellt das Geld sein eigenes Nichts als absolutes Mass und zugleich als absolute Ware zur Schau. Die Sprache ist im Spektakel der höchste Wert, weil sie das Nichts aller Dinge offenbart; Geld ist die höchste Ware, weil es letztlich die Nichtigkeit aller Waren anzeigt.
Doch in jedem Bereich der Erfahrung bezeugt der Kapitalismus seinen religiösen Charakter und gleichzeitig sein parasitäres Verhältnis zum Christentum. Vor allem in Bezug auf Zeit und Geschichte. Der Kapitalismus hat kein telos, er ist wesentlich unendlich, und doch und gerade deshalb unaufhörlich im Griff einer Krise, die immer gerade im Begriff ist zu enden. Auch darin bezeugt er jedoch sein parasitäres Verhältnis zum Christentum. Als David Cayley ihn fragte, ob unsere Welt eine postchristliche Welt sei, antwortete Ivan Illich: Unsere Welt ist keine postchristliche Welt, sondern die ausdrücklichste christliche Welt, die je existiert hat, und zwar eine apokalyptische Welt.
Die christliche Geschichtsphilosophie (jede Geschichtsphilosophie ist ja notwendig christlich) beruht in der Tat auf der Annahme, die Geschichte der Menschheit und der Welt sei im Wesentlichen beendet: Sie verläuft von der Schöpfung bis zum Ende der Zeiten, das mit dem Jüngsten Gericht, mit der Erlösung oder Verdammnis zusammenfällt. In diese chronologisch-historische Zeit schreibt das messianische Ereignis jedoch eine andere, vom Kairos bestimmte Zeit ein, in der jeder Augenblick in direktem Zusammenhang mit dem Ende steht und die Erfahrung einer «Zeit des Endes» macht, die aber zugleich ein Neubeginn ist.
Während die Kirche offenbar ihren eschatologischen Schalter geschlossen hat, sind es heute vor allem die Wissenschafter, verwandelt in apokalyptische Propheten, die das bevorstehende Ende des Lebens auf der Erde ankündigen. Und in jedem Bereich, in der Wirtschaft wie in der Politik, proklamiert die kapitalistische Religion einen Zustand permanenter Krise (crisis bedeutet etymologisch «endgültiges Urteil»), der zugleich ein normal gewordener Ausnahmezustand ist, dessen einzig möglicher Ausgang sich, wie in der Apokalypse, als «neue Erde» darstellt. Die Eschatologie der kapitalistischen Religion ist allerdings eine leere Eschatologie, ohne Erlösung und ohne Gericht.
So wie der Kapitalismus eigentlich kein wahres Ende haben kann und deshalb immer gerade zu Ende geht, so kennt er keinen Ursprung, er ist zutiefst anarchisch und dennoch genau aus diesem Grund immer gerade im Begriff, wieder von vorn anzufangen. Daher ist der Kapitalismus eines Wesens mit der Innovation, die Schumpeter zur Grundlage seiner Definition des Kapitalismus machte. Die Anarchie des Kapitals fällt mit seinem unaufhörlichen Bedürfnis nach Innovation zusammen.
Nichtsdestoweniger zeigt der Kapitalismus hier einmal mehr seine innige und parodistische Verbindung mit dem christlichen Dogma: Was ist denn die Dreifaltigkeit, wenn nicht die Konstellation, die es ermöglicht, die Abwesenheit jedes Ursprungs (archē) in Gott mit der zugleich ewigen und historischen Geburt Christi zu versöhnen, die göttliche Anarchie mit der Regierung der Welt und der Ökonomie des Heils?
Die wahre Anarchie
Ich möchte etwas über das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Anarchie hinzufügen. Ein Satz, den einer der vier Schurken in Pasolinis Film «Die 120 Tage von Sodom» ausspricht, lautet: «Die einzig wahre Anarchie ist die Anarchie der Macht.» Im gleichen Sinne hatte Benjamin viele Jahre zuvor geschrieben: «Nichts ist so anarchisch wie die bürgerliche Ordnung.» Ich meine, ihr Hinweis sollte ernst genommen werden. Benjamin und Pasolini treffen hier einen Wesenszug des Kapitalismus, der vielleicht im ganz wörtlichen Sinne die anarchischste Macht ist, die es je gegeben hat, weil er keine archē, weder Anfang noch Fundament haben kann. Doch selbst in diesem Fall zeigt die kapitalistische Religion ihre parasitäre Abhängigkeit von der christlichen Theologie.
Als Paradigma der kapitalistischen Anarchie fungiert die Christologie. Zwischen dem vierten und dem sechsten Jahrhundert war die Kirche tief gespalten durch die Kontroverse um den Arianismus, der zusammen mit dem Kaiser das gesamte östliche Christentum gewaltsam einbezog. Das Problem betraf eben den Ursprung, die archē des Sohnes. Arius stimmte mit seinen Widersachern darin überein, dass der Sohn vom Vater gezeugt worden sei und diese Zeugung «vor ewigen Zeiten» stattgefunden habe (pro chronon aiōnion bei Arius; pro pantōn tōn aiōnōn bei Eusebius von Cäsarea). Arius hat sogar sorgfältig präzisiert, der Sohn sei achronos gezeugt worden, ausserhalb der Zeit. Nicht so sehr ein chronologischer Vorrang steht also zur Debatte (die Zeit existiert noch nicht), nicht nur ein Problem der Rangordnung (viele Antiarianer meinen ebenfalls, der Vater sei «grösser» als der Sohn); vielmehr geht es um die Entscheidung, ob der Sohn – also Wort und Tat Gottes – im Vater begründet beziehungsweise wie dieser ohne Ursprung ist, anarchos, also ohne Grund.
Eine Textanalyse der Briefe des Arius und der Schriften seiner Gegner zeigt in der Tat als entscheidenden Begriff in der Kontroverse den Ausdruck anarchos (ohne archē, in dem doppelten Sinn, den der Ausdruck im Griechischen hat: Grundlage und Ursprung). In der Sicht des Arius ist der Vater zwar absolut anarchisch, der Sohn aber ist im Ursprung (en archē), doch nicht «anarchisch», da er im Vater seinen Grund hat.
Gegen diese häretische These, die dem Logos einen festen Grund im Vater gibt, bekräftigen die durch Kaiser Constans in Serdica (343) versammelten Bischöfe klar, auch der Sohn sei «anarchisch», und als solcher «herrscht er absolut, anarchisch und unendlich (pantote, anarchos kai ateleutetos) mit dem Vater».
Warum erscheint mir diese Kontroverse, jenseits ihrer byzantinischen Subtilitäten, so wichtig? Weil gilt: Da der Sohn nichts anderes ist als Wort und Tat des Vaters, sogar der Hauptakteur der «Ökonomie» des Heils, das heisst der göttlichen Regierung der Welt, steht der «anarchische», das heisst grundlose Charakter der Sprache, des Handelns und der Regierung in diesem Problem zur Debatte. Der Kapitalismus erbt und säkularisiert den anarchischen Charakter der Christologie und treibt ihn auf die Spitze.
Wenn wir diese ursprünglich anarchische Berufung der Christologie nicht verstehen, können wir weder die spätere historische Entwicklung der christlichen Theologie mit ihrem latenten atheologischen Abgleiten noch die Geschichte der abendländischen Philosophie und Politik mit ihrem Bruch zwischen Ontologie und Praxis, zwischen Sein und Handeln und deren daraus folgende Betonung von Wille und Freiheit verstehen. Christus ist anarchisch – das bedeutet in letzter Instanz, dass im modernen Westen Sprache, Praxis und Wirtschaft keine Grundlage im Sein haben.
Wir verstehen jetzt besser, warum die kapitalistische Religion und die ihr untergeordneten Philosophien so sehr auf Wille und Freiheit angewiesen sind. Freiheit und Wille bedeuten einfach, dass Sein und Handeln, Ontologie und Praxis, die in der klassischen Welt eng miteinander verbunden waren, nun getrennte Wege gehen. Menschliches Handeln ist nicht mehr im Sein begründet: Deshalb ist es frei, das heisst verurteilt zum Zufall und zur Beliebigkeit.
Hier möchte ich meine kurze Archäologie der kapitalistischen Religion unterbrechen. Es wird keine Schlussfolgerung geben. In der Tat meine ich, dass wir in der Philosophie wie in der Kunst ein Werk nicht «abschliessen» können: Wir können es nur «verlassen», wie Giacometti über seine Gemälde sagte. Wenn es jedoch etwas gibt, was ich Ihrer Reflexion anvertrauen möchte, dann ist das gerade das Problem der Anarchie.
Gegen die Anarchie der Macht will ich nicht die Rückkehr zu einer soliden Grundlage im Sein beschwören: Selbst wenn wir jemals ein solches Fundament besessen hätten, haben wir es mit Sicherheit verloren oder den Zugang dazu vergessen. Ein klares Verständnis der tiefen Anarchie der Gesellschaft, in der wir leben, ist, wie ich meine, der einzig richtige Weg, um das Problem der Macht und gleichzeitig das Problem der wahren Anarchie zu stellen.
Anarchie wird erst dann möglich, wenn wir die Anarchie der Macht erfassen. Konstruktion und Dekonstruktion fallen hier restlos zusammen. Doch, um Worte von Michel Foucault zu zitieren, was wir auf diese Weise erlangen, «ist nicht mehr und nicht weniger als die Eröffnung eines Raumes, in dem das Denken auf neue Weise möglich wird».