Chancen sehen und nutzen

I - Im Angesicht der Ohnmacht

Die Überwindung von Seuchen stellte Gemeinschaften immer wieder auf ein neues Fundament. Ob uns das bei Corona auch gelingen wird?
Der Roman der I Promessi Sposi, ein italienisches Nationalepos, spielt zwischen dem Comer See, Mailand und Bergamo. Er erzählt von der großen Pest des Jahres 1630, die von Söldnern aus dem Norden eingeschleppt wurde und, von der spanischen Fremdherrschaft so gut wie nicht bekämpft, mehr als die Hälfte der Bevölkerung dahinraffte. Auch unser Dorf, das damals etwas höher am Gebirgsbach lag, starb aus. Es wurde etwas tiefer und zu unserem Glück mehr in der Sonne von einem Orden neu gegründet. Das verfallene Dorf liegt unter Bäumen wie die Pest im Unbewussten der heutigen Bewohner.
Seuchen, die Cholera, die Pest, die spanische Grippe, haben das kollektive Unbewusste bis heute im Griff. Bis heute begründet die Erinnerung an das Ende der Seuche, die Wiederkehr von Gesundheit und Leben das Gemeinschaftswesen. Die Wiener laufen täglich um ihre Pestsäule. Auch die soeben auf 2022 verschobenen Oberammergauer Passionsspiele gehen auf ein Gelübde des Jahres 1633 zurück, das die Stadt von der Pest befreien sollte.
Seuchen, die Cholera, die Pest, die spanische Grippe, haben das kollektive Unbewusste bis heute im Griff
Am 21. November jeden Jahres feiert Venedig das venezianischste aller Feste, Salute, mit einer Extrabrücke über den Canale Grande und Fettgebackenem. Alle Welt pilgert in die Votivkirche, die nach dem Ende der großen Pest zum Dank an die Madonna della Salute errichtet wurde, in deren Schutz sich die Venezianer bis heute in ihrer „Zerbrechlichkeit und Ohnmacht“ wissen. Der Patron des nach der Seuche auch in unserem Bergdorf neugebauten Kirchleins ist Rochus, der Heilige der Pestkranken. 
Das Band, das Gesellschaft zusammenhält, wird geschlungen durch Begehen der Erlösung, der Überwindung von Krankheit, Tod, Vereinsamung und des damit drohenden (und oft eingetretenen) Rückfalls in die Barbarei des Sündenbocks und des brutalen Selbstinteresses. Dagegen begründet wurde immer neu ein sich der Ohnmacht und Hilflosigkeit bewusstes, schützendes Zusammenrücken. So hoffen wir, dass wir Salute so bald wie möglich in Venedig, in Mailand und in Oberammergau feiern werden.


II - Erhabene Unsicherheit

Das Virus bestimmt unser Leben. Höchste Zeit, sich den Begriff des Erhabenen zu vergegenwärtigen – und so ein Stück Souveränität zurückzugewinnen.

Wohl das Bemerkenswerteste an der Covid-19-Pandemie, an der damit einhergehenden „Corona-Krise“ und auch an den nun ins Werk gesetzten Gegenmaßnahmen ist das Maximale ihres Umfangs. Was derzeit geschieht, betrifft uns alle als Einzelne, in unserer fragilen Leiblichkeit, es betrifft uns als Menschheit in der Gesamtheit unserer globalen Verknüpfungen, und es betrifft alle Bereiche des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens. Es ist unbegrenzt bis zur Formlosigkeit, schlechthin groß – und erinnert so an einschlägige Bestimmungen des Erhabenen. Kann also möglicherweise der Begriff des Erhabenen zum Verständnis unserer Lage beitragen?

Es wäre nicht besonders hilfreich, das Unerhörte und Unvergleichbare selbst als erhaben zu deklarieren, sich für den Umschlag der Ordnung ins Chaos zu begeistern oder die (pop-)kulturell etablierten Bilder erhabenen Schreckens heraufzubeschwören (Phantasmagorien massenhafter Ansteckung, Visionen einer menschenleeren Welt). Folgt man Kant und Schiller, liegt das Erhabene ohnehin nicht im Furchtbaren selbst, sondern bezeichnet eine bestimmte Art, sich mit ihm auseinanderzusetzen, nämlich eine distanzierte, distanzierende Position einzunehmen, in der das Gefühl von Sicherheit entsteht. Und genau das ist es, was einen beim Wiederlesen der „Analytik des Erhabenen“ in Kants „Kritik der Urteilskraft“ oder ihrer Aneignung in Schillers Schrift „Vom Erhabenen“ eigentümlich berührt: der durchweg mitlaufende Diskurs von Sicherheit durch Abstand. Dies ist allerdings keine Sicherheit, derer ich mir sicher sein könnte. Vielmehr ist sie aufs äußerste affiziert von Gefahr, sie entsteht überhaupt erst bei und durch Gefahr. Nur so sind die beharrlichen Bemühungen zu verstehen, ausgerechnet den Schrecken zur Vernunftidee zu sublimieren – mit den Mitteln der Ästhetik, also durch reflektierende Urteilskraft, durch Veranschaulichung und Darstellung.
Freud empfiehlt vor allem intellektuelle Tätigkeit und Kunstgenuss, um einen ‚Leidensschutz‘ zu bewirken
Erhaben ist eine spezifische Weise, sich zur eigenen Unsicherheit zu verhalten, ihr Unfassliches fassbar zu machen. Das Erhabene oder Sublime wäre also prozessual zu verstehen: als Sublimierung, als Arbeit an der Selbsterhebung, so wie sie der Schiller-Leser Sigmund Freud in „Das Unbehagen in der Kultur“ entworfen hat. Freud empfiehlt vor allem intellektuelle Tätigkeit und Kunstgenuss, um einen – wie auch immer unvollkommenen – „Leidensschutz“ zu bewirken.
Mit unserer Situation hat all das insofern zu tun, als auch wir damit beschäftigt sind, Gefahr und Sicherheit im Modus von Involviertsein und Abstandnehmen neu zu verhandeln. Wir stehen mitten im Geschehen, und eben deshalb sind wir gut beraten, uns weder in Sicherheit zu wiegen noch dem Schrecken auszuliefern. Eine „ästhetische Einstellung“ (Freud) scheint hier in der Tat zu helfen. Dass social distancing und ästhetische Distanzierung Hand in Hand gehen, mag man den zahlreichen Lektüretipps für Corona-Zeiten („Decamerone“, „Pest“, „Stadt der Blinden“) ebenso entnehmen wie den auf allen Social-Media-Kanälen zirkulierenden alltagsästhetischen Darstellungen des Lebens in der Quarantäne. Offenbar gehört zum schlechthin Großen der Krise auch eine weltweite Tendenz zur Sublimierung. Sie zeigt, wofür nach Kant das Erhabene im Menschen steht: für die „Unbezwinglichkeit seines Gemüts durch Gefahr“. 

III - Zukunft zur Weiterentwicklung hängt vom Handeln ab

In der Corona-Krise sind die gesellschaftliche Verwirrung und die Deutungsspielräume groß.
Klammert man das durch das Virus verursachte millionenfache menschliche Leid und die daraus hervorgehenden politischen, ökonomischen und sozialen Gefahren einmal aus und nimmt einen nüchternen gesellschaftstheoretischen Blick ein, lassen sich ein paar Dinge inzwischen aber als harte Fakten festhalten. Erstens, in der Welt der physischen und materiellen Bewegung, das heißt insbesondere der Produktion und des Verkehrs, lassen sich massive, globale Reduktionen von teilweise über 80% des Volumens beobachten, und auch der Kultur- und Bildungsbetrieb ist vielerorts fast völlig zum Erliegen gekommen. Entschleunigung ist derzeit also ein makrosoziales Faktum, keine rückwärtsgewandte Phantasie, wie Kritiker behaupten. Zweitens, diese Entschleunigung ist das Ergebnis politischen Handelns, und vielerorts des Handelns demokratisch gewählter Regierungen, kein Wirkmechanismus der Viren; es handelt sich also um eine Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit: Die Politik hat innerhalb weniger Wochen ungeahnte Handlungsmacht gegenüber der Eigenlogik der Finanzmärkte, der großen Konzerne, den Geschäftsinteressen etc. gewonnen – allerdings auch gegen die Rechte der Bürger und Bürgerinnen. Diese Erfahrung kontrastiert scharf gegenüber der bisher dominanten Ohnmachtserfahrung angesichts der Klimakrise, aber auch angesichts schreiend ungleicher Vermögens- und Verteilungsverhältnisse.
Je komplexer eine Gesellschaft ist, umso schwieriger, gefährlicher und riskanter wird es, die eingefahrenen Gleise zu verlassen
Die Annahme, das normativ gebotene Primat der Politik könne gegenüber den Eigenlogiken funktionaler Differenzierung nichts mehr ausrichten, erweist sich damit schlicht als falsch. Drittens: Gesellschaften operieren im „Normalbetrieb“ gleichsam pfadabhängig, das heißt, in fast allen Bereichen herrschen festgelegte Regeln und Routinen, folgen wir im Handeln eingespielten und vorgegebenen Prozess- und Interaktionsketten. Je komplexer eine Gesellschaft ist, umso schwieriger, gefährlicher und riskanter wird es, die eingefahrenen Gleise zu verlassen. Nun aber sind sehr viele Prozessketten unterbrochen, Routinen angehalten, die Räder stillgestellt. Das ist ein historischer Ausnahmepunkt, wie er nur selten erreicht wird. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Gesellschaft versuchen wird, nach dem Abflauen der Krise so schnell wie möglich in die alten Routinen und Gleise zurückzufinden, die Räder wieder anzuschieben. Dennoch stehen wir an einem „Bifurkationspunkt“, an dem ein gesellschaftlicher Pfadwechsel möglich scheint. Wie es jetzt weitergeht, vermag kein soziologisches, ökonomisches oder zukunftswissenschaftliches Modell vorherzusagen, denn es hängt nicht von unserem Wissen, sondern von unserem Handeln ab. Dass wir Interaktionsketten nicht fortsetzen (oder wieder in Gang bringen) müssen, sondern neu anfangen, kreativ werden können: Dies ist das Spezifikum menschlicher Handlungsfähigkeit. Man nennt es Natalität.


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