Perspektivwechsel
Werte aus der Sicht eines Samurai
Diese Sichtweise ist heute so verbreitet, dass sich viele gar keinen anderen Sinn von Werten mehr vorstellen können. Daher gilt es, dieses Vorurteil einmal kritisch zu beleuchten. Denn wie wir sehen werden, ist es keineswegs selbstverständlich.
Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache, schrieb Ludwig Wittgenstein. Dies ist ein sehr wichtiges Rezept zum phänomenologischen Verständnis dessen, was wir mit Begriffen meinen. Wenn wir verstehen möchten, welche Funktion Werte für den Menschen heute erfüllen, so ist es interessant, wie wir sie kommunizieren.
Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache, schrieb Ludwig Wittgenstein. Dies ist ein sehr wichtiges Rezept zum phänomenologischen Verständnis dessen, was wir mit Begriffen meinen. Wenn wir verstehen möchten, welche Funktion Werte für den Menschen heute erfüllen, so ist es interessant, wie wir sie kommunizieren.
Der Mensch in unserer Gesellschaft bewegt sich in einem Umfeld, in dem der Wert von Handlungen und Gütern in erster Linie an ihrem Preis bemessen wird. Die Marktlogik ist mittlerweile in Bereiche vorgedrungen, die zuvor durch marktferne Werte geregelt waren wie etwa Bildung, Gesundheit, persönliche Beziehungen, Strafjustiz oder Umweltschutz.
Der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel analysiert dies als Übergang von einer Gesellschaft mit Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft, in der letztlich alles als Ware gesehen und gehandelt wird. Es sind hier Marktlogik und Marktwerte, die alle gesellschaftlichen Beziehungen bestimmen. Diese Umstände suggerieren tagtäglich, was sich mehr und mehr als Tatsache des Bewusstseins in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat: Was überhaupt wertvoll sein kann, das muss auch einen Preis haben.
Die Illusion, dass alles eine marktfähige Ware sei, die privat besessen werden kann, entspricht genau jener ökonomischen Realität, an die wir uns zunehmend angepasst haben. Wir sind heute förmlich konditioniert zu einer instrumentellen Rationalität, die den Wert von Werten an sich nicht mehr schätzen kann. Der Wert von Arbeit, Bildung, Freundschaft, Demokratie oder Toleranz bemisst sich so letztendlich nur mehr an seinem praktischen Nutzen, womit natürlich eine gewisse Entfremdung des Menschen zu sich selbst, seiner Umwelt und zu seinen Werten einhergeht.
Für den Samurai hingegen sind Werte etwas völlig anderes. Vor allem würde er den Wert von Werten niemals an ihrem äußeren Nutzen bemessen. Aus seiner Sicht entspricht dies der Wahrnehmung von Kleingeistern, deren Begriff von Werten pervertiert und deren Sinn für das Gute degeneriert ist. Für den Samurai erschließt sich der wahre Wert von Werten aus einer rein privaten, religiösen Beziehung zu diesen. Das Entscheidende an der seelischen Beziehung des Samurai zu seinen Werten, ist, dass er ihnen selbst eine unveräußerliche Würde zuspricht, die durch keinerlei äußere Güter aufgewogen werden könnte. Dieser Gedanke ist uns in unserer gegenwärtigen Kultur völlig fremd. Wir wissen heute Menschen und schon seltener Tiere zu würdigen, nicht aber Werte an sich. Der Samurai aber verehrt und respektiert seine Werte wie einen Gott.
Und das ist ein wichtiger Unterschied zu dem modernen Menschen heute: Der Samurai dient seinen Werten, weil er sie liebt und verehrt. Er unterwirft diesen seine ganze Lebenspraxis. Der heutige Mensch dagegen respektiert Werte nur, wenn sie ihm irgendwie praktisch nützlich sind, wenn also umgekehrt, die Werte ihm dienen, um materielle oder soziale Vorteile zu gewinnen. Sein Wertbezug ist pragmatisch und opportunistisch, der des Samurai ist rein ideell und identitätsstiftend.
Die Ansicht Platons, dass es schlimmer sei, Unrecht zu tun als Unrecht zu erleiden, weil ersteres der eigenen Seele weit mehr schade, ist dem heutigen Menschen eher fremd. Der Samurai aber weiß instinktiv, was das bedeutet, weil er über einen ethischen Instinkt verfügt, der vielen Menschen heute zu fehlen scheint. Mit einem von ihm verehrten Wert zu brechen, würde er als Hochverrat empfinden, der ihn seiner Würde als Mensch beraubt. Er will sich reines Gewissens im Spiegel wiedererkennen als der, der er sein möchte - ein Samurai. Für ihn gibt es daher kaum Schlimmeres, als jene Würde nicht mehr zu verdienen, die ihn aus seiner Sicht erst zum Samurai macht.
Würde ist für ihn schließlich nicht etwas das jedem Menschen von vornherein zukommt. Man muss sich diese gewissermaßen erst verdienen. Der Samurai darf sich daher zu Recht als Samurai verstehen, der moderne Mensch dagegen nicht, weil seine Würde beliebig ist. Zugleich ist er leicht korrumpierbar durch sein nutzenorientiertes Werteverständnis. Es gilt ihm nur das als Wert, was und solange es ihm auch nützlich ist und das ist immer von äußeren Umständen abhängig. Mit jenem modernen Werteverständnis einher gehen Charakterdefizite wie etwa Willensschwäche, Disziplinlosigkeit und vor allem Fremdbestimmtheit.
Ganz anders verhält es sich beim Samurai. Der konsequente Dienst an seinen Werten, die Loyalität zu diesen, die er sich im Handeln tagtäglich beweisen muss, disziplinieren seinen Charakter. Er ist sich selbst notwendigerweise immer Rechenschaft schuldig für sein Handeln, da er ansonsten befürchten muss, etwas zu verlieren, das für viele heute keinen Wert mehr hat: Selbstachtung. Hier geht es um eine zu erarbeitende Wertschätzung der eigenen Person sich selbst gegenüber, die vielen Menschen heute nutzlos erscheint. Doch auch das hat seinen „Preis“, denn ein Mensch, dessen Urteilsvermögen durch äußere Einflüsse leicht irritierbar ist, kann weder wahrhaftig noch wirklich frei sein, da er nicht fähig ist, seinem Willen konsequent zu folgen. Er wird immer dazu neigen, äußere Vorteile mehr zu schätzen, als den ehrlichen Dienst an seinen Werten und so wird er sie hintergehen. Genau das ist der Ursprung von Lüge und Korruption. Wer seine Werthaltungen äußeren Umständen anpasst, um dadurch beliebige Vorteile zu gewinnen, ökonomisiert seine Überzeugungen und sein Wesen.
Dem Samurai dagegen geht es immer darum, etwas nicht zu verlieren, nämlich den Respekt vor sich selbst, wenn er radikal ehrlich zu sich ist. Und das ist man immer dann zu sich, wenn man Rechenschaft ablegt vor jenem Teil in uns, den wir nicht belügen können: unserer Seele. Denn der wahre Wert von Werten konstituiert sich niemals aus ihrem äußeren Nutzen.